Multiples Staatsversagen

Erich Fenninger, Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich, beantwortete die Fragen der KOMPETENZ. (Foto: Nurith Wagner-Strauss)
Erich Fenninger, Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich, beantwortete die Fragen der KOMPETENZ. (Foto: Nurith Wagner-Strauss)

Erich Fenninger, Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich, warnt davor, dass Europa Flüchtlingen die Tür zuschlägt und sie damit im Krieg sterben lässt.

KOMPETENZ: Wie viele Flüchtlinge betreut die Volkshilfe derzeit in Österreich?

Fenninger: Die Volkshilfe hat sich in ihrer Geschichte immer für Menschen, die Schutz suchen und vor dem Tod, vor der Folter, vor Menschenrechtsverletzungen fliehen, engagiert. Derzeit betreuen wir in
Österreich an die 7.000 Flüchtlinge in den unterschiedlichsten Segmenten, beginnend bei der Nothilfe, in der Grundversorgung, aber dann auch in der integrativen Arbeit.

KOMPETENZ: Worin liegen für Sie im Moment die größten Herausforderungen?

Fenninger: Im Sommer hat es ein multiples Staatsversagen gegeben, weil viele politisch Verantwortliche nicht den ausreichenden Willen erkennen haben lassen, die Herausforderung anzunehmen. Wir haben Menschenrechtsverletzungen in einem völlig überbesetzten Traiskirchen gehabt. Man hat vor allem aber zu einem Zeitpunkt, wo die Anzahl der zu uns kommenden Menschen in keiner Weise zu groß gewesen wäre, schon signalisiert: Wir schaffen das nicht. Von Beginn an wurde ein Bedrohungsszenario entwickelt. Bevölkerung und Politik sind aber kommunizierende Gefäße. Wenn die Politik permanent vermittelt, wir können das nicht schaffen, dann wird es irgendwann auch die Bevölkerung glauben.

KOMPETENZ: Sind wir jetzt an diesem Punkt?

Fenninger: Ja. Es ist beängstigend und bedrohlich, weil wir einerseits ein Europa vorfinden, das ökonomisch, von den Arbeitsbedingungen und von der Armutssituation vergleichbar ist mit den 1930er-Jahren. Wir haben die höchste Vermögenskonzentration der Geschichte, nur noch vergleichbar mit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wenige sind superreich und die Zuwachsraten an Reichtum haben nach dem Finanzcrash 2008 sogar zugenommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit in Europa so hoch wie nie zuvor. Wir haben Millionen Armutsbetroffene in Europa. Und das sind die Ingredienzien, die wir in den Dreißigerjahren vorgefunden haben.

KOMPETENZ: Stichwort Obergrenzen. Sind sie gerechtfertigt oder nicht?

Fenninger: Mir kommt vor, dass die europäische Politik ein auf den Neoliberalismus eingeschränktes und begrenztes Denken hat, dass sie nur noch einen Realitätssinn pflegt, aber keinen Möglichkeitssinn. Es ist bestürzend, dass nur wenige Staaten Flüchtlinge aufnehmen. Was Österreich betrifft: Diesen Weg der Erfüllung von Vorschlägen der Freiheitlichen Partei finde ich bestürzend. Wir sind für Solidarität und Aufnahme, wehren uns aber dagegen. Wir sind gegen Zäune, dann  kommen Zäune. Und jetzt sind Obergrenzen festgelegt und grundsätzlich bedeutet das, dass man die Tür zuschlägt und Menschen damit nicht aus einem brennenden Haus herauslässt. Wir sind dabei, dass wir die Leute im Krieg sterben lassen.

KOMPETENZ: Wie erleben Sie aktuell die Situation in Spielfeld?
Fenninger: Persönlich wirklich bestürzend. Weil man vor einem halben Jahr vermutlich nicht gedacht hätte, dass wir Zäune und Obergrenzen haben werden, und dass plötzlich nicht mehr jeder Mensch das Recht einlösen kann, einen Asylantrag einzubringen. Wir erinnern uns, vor einem Jahr sind so viele Menschen ertrunken, wo aufgrund dieser Menge von mehreren Hundert Menschen Trauerfeierlichkeiten von den europäischen Regierungen in Brüssel stattgefunden haben. Das darf nie wieder passieren, hieß es. Und jetzt wird politisch absolut dazu beigetragen, dass genau das wieder passiert und auch permanent stattfindet.

KOMPETENZ: Oberösterreich ist vorgeprescht mit der Kürzung der Mindestsicherung für Flüchtlinge. Wo führt das hin?
Fenninger: Der erste Punkt, den ich erschreckend finde, ist, dass Politiker in Regierungsfunktion sagen, weil Flüchtlinge kommen, streichen wir die Mindestsicherung.

KOMPETENZ: Das ist ja jetzt einmal nur für Flüchtlinge so.

Fenninger: Ja, aber wenn wir uns erinnern, hat es voriges Jahr im Sommer eine erste Aussage aus der ÖVP gegeben, wo man gesagt hat, die Nettoersatzquote beim Arbeitslosenbezug ist zu hoch. Es ist also erkennbar, dass sich Kürzungen langfristig nicht nur auf Flüchtlinge beziehen werden. Was ich zudem obszön finde: Dass wir in einer Zeit, wo eine Person so viel Vermögen hat wie 59 Millionen Erdenbürger, also diese 62 Menschen, die so viel haben wie die untere ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dass wir da eine Welt der Überflüssigen konstruieren. Und diese Überflüssigen, die sollen jetzt nicht einmal mehr das Mindeste zum Leben bekommen, während die anderen ununterbrochen Vermögen anhäufen.

Die Zivilgesellschaft – da gehört die Volkshilfe dazu – muss hier einen Aufstand organisieren, sagen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen, und dass wir eine Politik und PolitikerInnen wollen, die gegen diese neoliberale, enthemmte, entfesselte, kapitalistische Politik eines Finanzmarkts aufstehen, der sich von der Realwirtschaft längst abgehoben hat, wo man lieber in den Finanzmarkt investiert als in Arbeitsplätze.

Schon jetzt liegt die Armutsgrenze über der Höhe der Mindestsicherung. Sieht man sich den Deckelungsvorschlag der ÖVP an, gibt es für das erste Kind 150 Euro, für das zweite Kind hundert Euro und ab dem dritten null. Das ist der nächsteWahnsinn. Ich beforsche Kinderarmut. Und da wissen wir, dass Kinder, die im finanziellen Mangel aufwachsen, schon zu Schulbeginn benachteiligt sind. Sie sind schon vor dem ersten Schultag so weit hinten, dass sie dann diejenigen sind, die die schlechten Noten bekommen. Das Schulsystem prolongiert diese Segregation.

KOMPETENZ: Wer bei der Mindestsicherung kürzt, fördert also Armut.

Fenninger: Ja. Und da glaube ich, dass hier auch die Gewerkschaft aufgerufen ist, ebenso wie fortschrittlich gesinnte Gruppen aus den  verschiedensten Bereichen. Die occupy-Bewegung sagt, 99 Prozent werden benachteiligt. Man kann in Österreich sagen, dass das hier für  80 bis 90 Prozent zutrifft. Die Einkommensschere geht weit auseinander, die Lohnquoten stagnieren seit 30 Jahren. Das ist nicht mehr hinnehmbar, da müssen wir uns echt wehren.

Zur Person
Erich Fenninger ist seit 2003 Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich und stellvertretender Vorsitzender der Sozialwirtschaft Österreich. Infos unter: www.volkshilfe.at

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