Wie international üblich soll auch hierzulande der Unterricht auf eine verschränkte und ganztägige Form umgestellt werden.
Die kleine Dorfschule hat knapp 70 Kinder. Ihre Väter und Mütter sind großteils berufstätig. Als die Schule vor 40 Jahren eröffnet wurde, war das noch anders – wie viele andere Dinge auch: es gab mehr Selbstversorger, sprich Bauern, kein Internet, kaum Globalisierung. Heute sind die Eltern froh, dass die Volksschule im burgenländischen Kobersdorf seit ein paar Jahren eine „Tagesbetreuung“ anbietet, wo die SchülerInnen nach dem Unterricht essen, Hausübung machen und spielen können. Bis halb fünf am Nachmittag erleichtert das den Berufstätigen das Leben. Die Gemeinde hilft und zahlt mit.
Eine „echte“ Ganztagesvolksschule (GTVS) ist die GTVS Köhlergasse in Wiens 18. Bezirk: Die LehrerInnen unterrichten sowohl vormittags als auch nachmittags. Die Unterrichtsstunden wechseln sich ab mit Freizeit-, Bewegungs- und Essenspausen. Auch das Bundesrealgymnasium in der Marchettigasse in Wiens sechstem Bezirk bietet seit dem Vorjahr diese verschränkte Unterrichtsform (mit Wahlfreiheit) an. Jene Eltern und SchülerInnen, die sich dafür interessieren, werden auf der Homepage ausdrücklich um eine möglichst frühe Voranmeldung gebeten.
Österreich als Ausnahme
Was hierzulande als außergewöhnlicher Schulalltag anmutet, ist im Rest Europas längst jahrzehntelanger Usus. Mittlerweile gibt es kein Land mehr, das nur noch auf die Halbtagsschule setzt. Ganztägige Schulformen sind flächendeckend oder zumindest teilweise implementiert, geht aus der Datenbank Eurypedia zu den Bildungssystemen in 33 europäischen Ländern hervor. Ganztagsschulen mit verschränktem Unterricht gibt es von Finnland bis Malta europaweit. Und als bisher letzte Staaten haben Griechenland, Deutschland und Österreich ihre Systeme in ein „teilweise ganztägiges“ umgewandelt.
Pädagogischer Idealfall
Mehr als 1,1 Millionen SchülerInnen gibt es in Österreich. Davon gehen 220.000 in Wien zur Schule. 36 Ganztagsvolksschulen hat die Bundeshauptstadt seit diesem Schuljahr, vier Ganztagshauptschulen und drei Standorte von Ganztags(real)gymnasien. Denn die Bildungsexperten sind sich international einig: Ganztägige Schulsysteme stellen den pädagogischen Idealfall dar. Leistungen und Kompetenzen der SchülerInnen steigen, wenn sie mehr Lernzeit in der Schule verbringen. Aus diesem Grund sei es wichtig, dass auch Österreich den Weg „von der Halbtags-keine-Schule zur modernen Ganztagsschule für alle schnellstmöglich geht“, meint Wiens Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl.
Die Ganztagsschule entspricht also nicht nur dem Bedürfnis der Eltern. Dass AlleinerzieherInnen bzw. beide Elternteile berufstätig sind, ist für die meisten eine Überlebensfrage – damit sie sich Essen, Wohnung, Heizung und Schuhe leisten können. Das ganztägige Schulsystem hilft daher eher als das halbtägige, der wachsenden Armut entgegenzusteuern. Aber auch frauen- und familienpolitische Ziele führt Thomas Kreiml von der Bildungsabteilung der GPA-djp ins Treffen.
Mythos Familie
„Man muss sich schon fragen, ob die Familie immer der beste Ort ist.“ Kreimls Ansicht nach herrsche in konservativen Kreisen, die eben auch Neuerungen in der Bildungslandschaft verhindern möchten, „ein mystifiziertes Familienbild“ vor. Teilweise übernehme sogar das Fernsehen die Funktion eines Erziehungsberechtigten, wenn Kinder zwar zu Hause, aber sich selbst überlassen sind. Schwierige Familienverhältnisse und soziale Auffälligkeiten (Drogen, Gewalt) könnte man über das pädagogische Konzept der Ganztagsschule abfedern, so Kreiml mit Hinweis auf Ergebnisse einer aktuellen deutschen Studie. Und das Potenzial, das die SchülerInnen haben, könnte durch die längere Lernbegleitung besser genützt werden. Das umfassende pädagogische Konzept der Ganztagsschule könnte die Bildungschancen der Kinder aus bildungsfernen Schichten erhöhen.
In der Bundesregierung mag das Expertenwissen bekannt sein. Einem Gesetzesentwurf oder flächendeckenden Angebot an Ganztagsschulen nähern sich SPÖ und ÖVP nun langsam an. Für die Rahmenbedingungen konnte Anfang Dezember eine Einigung erzielt werden. Bei den Verhandlungen versuchte der anfangs durchwegs skeptische VP-Koalitionspartner zum Beispiel, die Ganztagsschule mit verpflichtendem Ethikunterricht für alle SchülerInnen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, zu verknüpfen.
Finanzierung
Auch die LehrerInnengewerkschaft muss erst von der Zustimmung zur Ganztagsschule überzeugt werden. Die LehrerInnen würden sich mit dem Personal der jetzigen Nachmittagsbetreuung (Hort) abwechseln. Sie müssten dann aber wohl länger an der Schule anwesend sein. Ungeklärt ist auch noch die Finanzierung, vor allem wären umfassende Schulumbauten bzw. –neubauten notwendig, um neue Lern-, Arbeits- und Freizeiträume zu schaffen.
Vorerst will die Bildungsministerin 80 Millionen Euro in die Hand nehmen und damit 40.000 zusätzliche Plätze schaffen. Diese würden bis 2018 eine 25-prozentige Versorgung bringen. Die Arbeiterkammer fordert, dass das verschränkte Unterrichtssystem bis 2020 zum Regelfall wird. Sie gibt außerdem zu bedenken, dass derzeit Familien in Österreich 110 Millionen Euro jährlich für Nachhilfestunden ausgeben.
Die Umstellung auf Ganztagsschulen „rechnet sich doppelt und dreifach“, ist für Thomas Kreiml klar. Wenn man für Infrastruktur im Forschungs- und Bildungsbereich Geld ausgebe, sei das eine Investition in die Zukunft. „Österreich bekommt einen Koralmtunnel (voraussichtliche Kosten: bis zu zehn Milliarden Euro, Anm.) – wie viele Ganztagsschulen könnten stattdessen hingestellt werden“, kritisiert er. Und er erneuert die Forderung der Gewerkschaften, eine Vermögenssteuer einzuführen.