Bernadette Ségol, Generalsekretärin des EGB, warnt davor, das europäische Sozialmodell zu untergraben. Sie fordert mehr Leadership in der Politik und Investitionen am Arbeitsmarkt.
Bernadette Ségol ist die erste Frau an der Spitze des Generalsekretariats des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Und es mag an ihrem Temperament liegen, dass sie zugibt: „Das sind wirklich schwere Zeiten für die Gewerkschaften, es war noch nie so schwierig, neue Mitglieder zu rekrutieren.“ Besorgt sei man derzeit vor allem über die Lage in den osteuropäischen Ländern. Insbesondere das neue Arbeitsrecht in Ungarn kritisiert Bernadette Ségol. Es hebelt das Streikrecht so gut wie aus und hat die staatlichen Sozialleistungen – von der Abfertigung und Überstundenregelung über den Urlaubsanspruch bis zum Kündigungsschutz – drastisch gekürzt. Das alles widerspreche der Freiheit und einer sozialverträglichen Marktwirtschaft.
Starke Gewerkschaften
Ségol stößt sich auch an den Kampagnen, die gegen die Gewerkschaften gerichtet sind. Und sie betont, dass genau jene Länder besonders wettbewerbsfähig seien, in denen die Gewerkschaftsbewegung ebenfalls stark sei, vor allem in Nordeuropa. Gleichzeitig erwähnt sie das Beispiel eines großen schwedischen Unternehmens, das in seiner Heimat hohe Sozialstandards gewähre, aber genau diese in den Filialen in den baltischen Ländern mit Füßen trete.
So etwas bringt die quirlige 61-Jährige sichtlich in Rage. Sie hat ein abgeschlossenes Philosophiestudium und ist seit knapp 40 Jahren aktiv in der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Südfrankreich, waren ihre Eltern schon sozial gesinnt und achteten auf Fairness und Gerechtigkeit, wie Ségol bereitwillig im Interview erzählt. „Mein Vater war Kriegsgefangener in Österreich. Dass in Europa mehr Zusammenarbeit notwendig ist, war meinen Eltern bewusst, obwohl sie aus ganz einfachen Verhältnissen stammten.“
Gefahr für das Sozialmodell
Die neue EGB-Generalsekretärin sagt daher: „Ja zu mehr Europa, aber nein zu noch mehr Druck auf die Gewerkschaften! Wir wollen ein soziales Europa. Aber wenn kollektivvertragliche Vereinbarungen immer mehr aufgeweicht und Gehälter gedrückt werden, gerät das europäische Sozialmodell in Gefahr. Was wir von der Europäischen Union erwarten, ist, dass es ein positives Projekt für die Menschen ist.“ Im Moment überwiege jedoch die Sorge, dass das Niveau der Gehälter und Sozialleistungen weiter sinke. Etwa durch die neuen EU-Beschlüsse zur wirtschaftspolitischen Steuerung in den Mitgliedsländern („Six-Pack“). „Die EU muss die ArbeitnehmerInnen schützen – wobei schützen kein schmutziges Wort ist. Und ein ordentliches Gehalt ist nicht der Feind der Wirtschaft.“
Sozialdumping stoppen
Kämpferisch gibt sich Bernadette Ségol denn auch, wenn man sie danach fragt, was die europäischen Gewerkschaften noch tun können, außer zu Demonstration aufzurufen. Wichtig sei im Moment die große Kampagne zur Frage, wie Sozialdumping gestoppt werden könne. Im europäischen Gesetzgebungsprozess haben die ArbeitnehmervertreterInnen, anders als in Österreich etwa, nur ein Anhörungsrecht vor den Beschlüssen. Dennoch würden die Gewerkschaften in der EU-Politik ernst genommen, meint Ségol. „Das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung ist schließlich in der Grundrechtecharta, die im EU-Vertrag von Lissabon verankert ist, festgeschrieben.“ Zwar habe die – ihr nahe stehende – sozialdemokratische Politik im Augenblick keine Mehrheit im EU-Rat (der Regierungschefs, Anm.) und im EU-Parlament. „Aber wir werden weiterhin unsere Stärke und unsere Einflussmöglichkeit im Europäischen Parlament nützen.“
Arbeitsmärkte stärken
Gerade im Hinblick auf Griechenland lehnt Ségol einseitige Maßnahmen, die in erster Linie auf Einsparungen abzielen, ab. „Das bringt diese Länder doch in eine noch verzweifeltere Lage. Was wir brauchen, sind wirtschaftliche Solidarität, eine Finanztransaktionssteuer (auf internationale Geldspekulationen) und eine Wachstumspolitik. Und Wachstum gibt es nur durch nachhaltige Investitionen in den Arbeitsmarkt.“ Natürlich müsse im Fall Griechenlands die Praxis der massiven Steuerhinterziehung ein Ende haben; das Land mache jetzt einen Kulturwandel durch und brauche Zeit. „Aber dass wir Griechenland helfen, ist in unserem Interesse. Bisher haben wir nicht Geld hergegeben, sondern Bürgschaften. Das ist keine moralische Frage, sondern eine Frage von Solidarität.“ Eine Renationalisierung, indem man Staaten in Not alleine lässt, schaffe jedenfalls keine Arbeitsplätze, so die EGB-Generalsekretärin.
Leadership in der Politik
„Europa ist die Lösung, nicht das Problem.“ Und Bernadette Ségol stellt dabei klar: Es könne nicht sein, dass verzweifelte BürgerInnen populistischen und fremdenfeindlichen Parteien in die Arme laufen, wie das auch in Frankreich beim rechtsextremen „Front National“ der Fall sei. „Nein, danke!“ Wenn die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen etwa in Spanien und Griechenland zwischen 40 und 50 Prozent liege, könne das gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. „Wir brauchen starke Regierungen und Leadership in der Politik. Andernfalls, wenn Unsicherheit herrscht, macht sich Spekulation breit. Politiker dürfen sich nicht in die Hände der Märkte begeben, sondern die Märkte erwarten sich politische Führungsstärke.“
Nach diesen allgemeinen Forderungen stellt sich die Frage, wie der Kapitalismus konkret eingedämmt werden könnte. Dabei spricht sich die EGB-Generalsekretärin für eine verstärkte Regulierung speziell des „Casino-Kapitalismus“ aus, das heißt hoch riskante, globalisierte Geldspekulationen. „Das ist keine echte Wirtschaftsleistung und gehört transparent gemacht.“ Möge sie dazu in ihrer vierjährigen Amtszeit etwas beitragen können.
Info: Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB)
Der EGB umfasst 82 Mitgliederorganisationen in 36 europäischen Ländern sowie 12 europäische Gewerkschaftsföderationen, also insgesamt mehr als 60 Millionen Mitglieder.
Internet: www.etuc.org