Arbeits- und Sozialrechtsexperte Martin Risak von der Uni Wien bestätigt im Interview eine Risikoverlagerung zu immer mehr selbstständigen und dennoch abhängigen Erwerbstätigen.
KOMPETENZ: Die Arbeitsverhältnisse verändern sich, die prekäre Arbeit steigt. Bedeutet das auch mehr Ausbeutung?
Martin Risak: Seit den 80er Jahren merken wir die Tendenz Richtung atypische Arbeitsverhältnisse. Also die unproduktiven Zeiten gering zu halten. Das sehen wir an den Teilzeitarbeitsverhältnissen, wo die Arbeit verdichtet; oder bei den befristeten Arbeitsverhältnissen, wo der Kündigungsschutz wegfällt. Die Grundidee war: Ein Arbeitsverhältnis ist eine Vollzeitbeschäftigung, unbefristet, mit vollem sozialen Schutz. Dann ist das Normalarbeitsverhältnis erodiert. Wir haben Befristung, Teilzeit, Arbeitskräfteüberlassung. Der, für den ich arbeite, ist nicht unbedingt mein Vertragspartner. Ab 2000 haben wir eine massive Debatte über die Flexibilisierung innerhalb der Arbeitsverhältnisse: Es gibt einen 12-Stunden-Arbeitstag, verstärkt wird Gleitzeit eingesetzt. Jetzt kommen die Informations- und Kommunikationstechnologien dazu. Um ArbeitnehmerInnen effizienter einzusetzen und das Risiko für ArbeitgeberInnen noch geringer zu halten. Wenn man das als Ausbeutung bezeichnen möchte, dann wohl schon.
KOMPETENZ: Weil das Risiko verlagert wird.
Martin Risak: Die Frage ist, wie die Früchte der Arbeit verteilt werden. Wir erleben eine Risikoverlagerung zu den ArbeitnehmerInnen. Ursprünglich war das Risiko der UnternehmerInnen das Argument, weshalb sie besonders viel Geld verdienen.
KOMPETENZ: Das Risiko der freien ArbeitnehmerInnen ist doch ungleich höher?
Martin Risak: Es ist anders. Hier arbeiten Menschen unter Verwertung ihrer Arbeitskraft, weil sie nichts anderes zu verwerten haben. Ursache ist die Ungleichverteilung von Vermögen. Wenn es gleich verteilt wäre, könnten wir alle kleine unternehmerische Strukturen aufbauen, uns zusammenschließen, wären gleichberechtigt in einer Kapitalgesellschaft oder kooperativ in einer Genossenschaft. Bei unterschiedlichem Vermögen ist der Nimbus des Risikotragens geringer. Gefühlt ist es immer noch ein hohes Risiko, die Villa oder das fünfte Auto zu verlieren. Aber es ist nicht so existenziell wie für jemanden, der einen Teilzeitjob um 1000 Euro macht oder knapp an der Mindestsicherung schrammt und mehrere Kinder hat.
KOMPETENZ: Wie hält die Gesetzgebung mit den neuen Arbeitsformen mit?
Martin Risak: Österreich hat ein recht eng gewebtes Netz an Schutzbestimmungen für ArbeitnehmerInnen. Das kommt aus der Zwischenkriegszeit. Inzwischen hatten wir einen Wechsel zu mehr Dienstleistungen, wo auch massiv Wertschöpfung gemacht wird. Unser Schutzniveau ist hoch für eine Kerngruppe. An den Rändern wird es schwierig. Für kleine Selbstständige, etwa „WissensarbeiterInnen“. Diese Arbeitsleistungen konnten früher nicht ordentlich kontrolliert werden. Mittlerweile schaffen wir sogar hier eine super Kontrolldichte. Durch die Computerisierung. Drittens kommt die plattformbasierte Arbeit hinzu, wo außerhalb der klassischen Hierarchie des Unternehmens Arbeit organisiert wird.
KOMPETENZ: Konkret?
Martin Risak: Zum Beispiel bei Amazon oder Uber. Jemand schafft etwas an, und es wird kontrolliert, ob das eingehalten wird. Das gibt es sowohl in Industriebetrieben als auch in Dienstleistungsunternehmen. Die PackerInnen bei Amazon tragen Scanner an der Hand, die alle ihre Aktivitäten aufzeichnen. Die Plattformen setzen andere Mechanismen ein. Das eine ist die Crowd, die Menge derer, die zur Verfügung stehen. Dann wird ein Auftrag ausgeschrieben. Wobei virtuelle DienstleisterInnen aus Bangalore, Neuseeland oder Deutschland quasi gegeneinander antreten.
Man hat angenommen, die Wissensarbeit sei gegen die Auslagerung immun, weil das Produkt nicht so herumschiebbar ist. Jetzt geht das durch das Internet leichter, als ein T-Shirt auszulagern. Man kann die Röntgenbilder in Indien begutachten lassen, während wir hier schlafen. Also nicht mehr gute Qualifikation schützt uns davor, dass ein Auftrag ausgelagert wird – bis dato schützen uns Sprachbarrieren. Ab dem Zeitpunkt, wo wir eine sehr gute Übersetzungssoftware haben, ist auch dieser Schutzmechanismus abgebaut.
KOMPETENZ: Gibt es in Europa ein Best practice-Land, wo AuftragnehmerInnen und AuftraggeberInnen in den neuen Arbeitsformen ausreichend geschützt sind?
Martin Risak: Bei befristeter Beschäftigung, Teilzeitarbeit und Arbeitskräfteüberlassung gibt es einen europäischen Mindeststandard, den man sicherlich immer verbessern kann. Österreich ist richtig gut bei der flächendeckenden Sozialversicherung für alle, die eine Erwerbstätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Gewerbescheine haben oder nicht. Auf die neuen Selbstständigen hat Österreich verhältnismäßig früh reagiert. Was das plattformbasierte Arbeiten betrifft, gibt es noch nirgends Vorbilder. In den Niederlanden können Gewerkschaften auch Selbstständige mit organisieren und für sie Kollektivverträge abschließen. Das ist ein extremer Vorteil, von dem man sich etwas abschauen könnte. Am Ende haben ganz klar die Verhandlungsmacht jene, die die Aufträge vergeben. Selbstständige befinden sich in einem Wettbewerbsmodus. Angestellte ArbeitnehmerInnen haben im Lauf der Jahrhunderte gemerkt, dass eine gewisse Form der Solidarisierung ganz gut ist; hier haben besonders Gewerkschaften den Wettbewerbsgedanken aus den Köpfen herausgenommen.
KOMPETENZ: Werden die Normalarbeitsverhältnisse ganz verschwinden aus betriebswirtschaftlichen Gründen?
Martin Risak: Wir haben ein bipolares System von selbstständig und unselbstständig Erwerbstätigen. Die zeitlich und sonst flexiblen freien MitarbeiterInnen, die den ArbeitnehmerInnen gegenüber schlechter gestellt sind, befinden sich dazwischen. Entweder wir weiten den ArbeitnehmerInnen-Begriff aus oder wir finden eine Zwischenkategorie.
KOMPETENZ: Das wäre?
Martin Risak: Wir haben in Österreich „arbeitnehmerähnliche Personen“. In Italien, Ungarn oder anderen Ländern wird damit experimentiert, indem man sagt, diese Gruppe braucht wahrscheinlich nicht das ganze Spektrum an Schutz oder keine betriebsrätliche Vertretung. Ich bin mir da nicht so sicher. Warum sollen die wirtschaftlich abhängigen selbstständig Beschäftigten nicht auch Einblick in die wirtschaftliche Zukunft eines Unternehmens haben, für das sie arbeiten, um sich darauf einzustellen, wie es weiter geht?
KOMPETENZ: Sollten sich die Gewerkschaften stärker öffnen?
Martin Risak: Absolut. Ich weiß nicht, inwieweit es fürs Überleben der Gewerkschaften essentiell ist. Aber wenn der Schutzgedanke weitergefahren werden soll, ist das eine Gruppe, die abgeholt werden muss. Sie wird in der Wirtschaftskammer nicht vertreten. Die neuen Selbstständigen sind auch in der Arbeitnehmervertretung nicht wirklich repräsentiert.
Martin Risak ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien.