Europa – Kontinent des sozialen Rückschritts

Französische Gewerkschafterinnen protestieren gegen Kürzungen. Foto: Ian Langsdon/EPA/picturedesk.com
Französische Gewerkschafterinnen protestieren gegen Kürzungen. Foto: Ian Langsdon/EPA/picturedesk.com

Europa kommt einfach nicht aus der Krise –mit erschütternden sozialen Folgen. Was den Menschen als Lösung verkauft wird, entpuppt sich immer öfter als direkter Angriff auf Gewerkschaftsrechte.

Hartnäckig hält sich die Wirtschaftslogik, Europa sei bei Gesetzen und Transferleistungen so sozial wie niemand sonst auf der Welt – daher seien auch weitere Regelungen völlig unnötig. Wirtschafts- und Industrie-Lobbys stellen sich vehement gegen höhere Standards beim Arbeits- und Sozialrecht auf EU-Ebene. Dazu kommt, dass aus der Finanz- und Wirtschaftskrise längst eine massive soziale Krise geworden ist, die in immer mehr Staaten auch zur Aushöhlung der Kollektivvertrags- und Gewerkschaftsrechte führt. Aus dem Kontinent des sozialen Fortschritts wird zunehmend einer des sozialen Rückschritts.

Spotlight: Finnlands „Wettbewerbspakt“

Im April 2015 kündigte die rechts-konservative finnische Regierung harte Einschnitte an, um die „Wettbewerbsfähigkeit des Landes“ wiederherzustellen. Die Gewerkschaften wurden vor ein Ultimatum gestellt: Entweder sie verhandeln einen Pakt mit weitreichendem Sozialabbau, oder die Regierung wird diese Maßnahmen im Parlament beschließen und zusätzlich die Gewerkschaftsrechte im Bereich der KV-Politik massiv einschränken. Das 2016 beschlossene Ergebnis des Pakts beinhaltete unter anderem eine Anhebung der Arbeitszeit um 24 Stunden, die Streichung von drei Feiertagen bei gleichbleibendem Entgelt; keine Lohnerhöhungen im Jahr 2017 und die Umwälzung von ArbeitgeberInnenabgaben auf die ArbeitnehmerInnen. Im „Gegenzug“ wurde die Lohnsteuer minimal gesenkt. Die Höhe der Steuersenkung wurde allerdings davon abhängig gemacht, wie viele Gewerkschaften den Pakt unterzeichnen. Hinter diesem Pakt verbirgt sich die aktuell überall in Europa vorherrschende (Un-)Logik, dass Wettbewerbsfähigkeit durch Senkung der Lohnkosten erreicht wird. Die finnischen Gewerkschaften konnten dabei nur verlieren: Entweder ihre Rechte werden über ihren Kopf hinweg massiv beschnitten, oder sie sind mit im Boot bei einer allgemeinen arbeits- und sozialrechtlichen Verschlechterung.

Spotlight: Frankreichs „Arbeitsmarktreform“

Ganz ähnlich ist die Situation in Frankreich. In weniger als zwei Jahren wurden trotz massiver Proteste zwei Arbeitsmarktreformen umgesetzt. 2015 wurde etwa die Nacht- und Sonntagsarbeit ausgeweitet und der Kündigungsschutz ge­lockert. 2016 folgten neben weiteren Flexibilisierungen im Arbeitsrecht, eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 60 Stunden und eine Reform im Lohnbildungssystem, die die Branchengültigkeit von Kollektivverträgen aufweicht. Als Reaktion darauf bildete sich die „nuit debout“-Bewegung.

Unter dem Motto „nachtsüber wach bleiben“ protestierten Hunderttausende Menschen in Frankreich gegen das Paket, auch die Gewerkschaften schlossen sich an. Es kam zu zwei Generalstreiks im Mai, im Juni sprachen sich circa 70 Prozent der französischen Bevölkerung gegen das Gesetz aus, bis zu 1,3 Millionen Menschen beteiligten sich an Demonstrationen. Die Regierung reagierte darauf mit der Verhängung des „Ausnahmezustands“. Sie untersagte Großveranstaltungen der Protestierenden und stellte AktivistInnen unter Hausarrest. Die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wurde massiv eingeschränkt. Im August wurde das Gesetz letztlich – mit kleineren Verbesserungen, aber demselben Rahmen – beschlossen.

Spotlight: Anti-Gewerkschafts-Strategie in der Slowakei

In vielen osteuropäischen Staaten war es für Gewerkschaften nach 1989 schwer, Fuß zu fassen. Einerseits war/ist die Gesetzgebung teils gewerkschaftsfeindlich, andererseits gibt es keine breite Unterstützung unter den ArbeitnehmerInnen für die Bewegung. So auch in der Slowakei. Im Zentrum stehen dort die Betriebsgewerkschaften: Nur wenn es eine solche Struktur gibt, kann ein Kollektivvertrag im Unternehmen verhandelt werden. Sonst hängt es rein vom guten Willen der ArbeitgeberInnen ab, wie der Arbeitsvertrag gestaltet ist. Hinzu kommt, dass der Großteil der Mitgliedsbeiträge bei der Betriebsgewerkschaft verbleibt und den Dachverbänden kaum finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Diese können daher weder schlagkräftig sozialpolitisch agieren noch Angebote wie Rechtsberatung zur Verfügung stellen. So gab es in der Slowakei in den vergangenen Jahren auch kaum arbeitsrechtliche Verfahren und Urteile.

Die Unternehmen selbst haben nicht nur kein Interesse an Gewerkschaftsgründungen, sie versuchen auch immer wieder, sie aktiv zu verhindern. Im September wurde die Vorsitzende einer neu gegründeten Betriebsgewerkschaft bei einem globalen Unternehmen in Bratislava gekündigt. Die Unternehmensführung behauptet, dass dies nur aufgrund von internen Umstrukturierungen geschehen sei – nicht wegen der Gewerkschaftsgründung. Alle Indizien weisen jedoch auf das Gegenteil hin.

Soziale Rückschritte

Die Spotlights zeigen, dass die Angriffe auf Sozial- und Gewerkschaftsrechte in Mitgliedsstaaten der EU keine Einzelfälle sind, sondern Teil eines gesamteuropäischen Abwärtstrends. In fast allen Ländern Europas werden Arbeits- und Sozialrechte in Frage gestellt und Gewerkschaftsrechte eingeschränkt.  Auf Proteste von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften wird mit Repressionen reagiert und auf Lohnforderungen sofort mit Standortverlagerungen gedroht: Wenn in Spanien die Löhne um 30 Prozent niedriger sind oder in der Slowakei Gewerkschaften leichter verhindert werden können, könnten die Unternehmen ihre Standorte jederzeit ein paar Kilometer weiter in den Osten oder in den Süden verlagern. Der dadurch entstehende Druck, Arbeitskosten einzusparen, ist auch in Österreich deutlich spürbar. Die sozialen Rückschritte bei unseren europäischen Nachbarn betreffen uns ganz unmittelbar. Gefordert ist daher nicht nur Solidarität mit den Betroffenen und der weitere Ausbau der Zusammenarbeit mit Partnergewerkschaften und europäischen Gewerkschaftsverbänden, sondern auch eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit diesen Rückschrittsszenarien und deren Auswirkungen.

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