Gesellschaftlich relevante Daten zu präsentieren, ist Aufgabe der Statistik Austria. Politische Einflussnahme weist Generaldirektor Konrad Pesendorfer im Interview zurück.
KOMPETENZ: Herr Pesendorfer, eine Tageszeitung behauptete unlängst, Sie könnten als Herr über die Daten der Republik munter Parteipolitik machen. Stimmt das?
Pesendorfer: Es gibt einen ganz klaren Verhaltenskodex, der auf EU-Ebene für die Statistikinstitutionen festgelegt ist und der Objektivität, Unparteilichkeit und die Einhaltung von wissenschaftlichen Standards verlangt. Diese Grundsätze sind übertragen in unser Bundesstatistikgesetz. Wenn sie nicht eingehalten werden, würden die Reputation und die Glaubhaftigkeit der Daten beschädigt werden. Das ist unser größtes Gut. Insofern ist die Idee, wir könnten parteiisch sein, sehr weit von der Realität entfernt. Das kann auch durch empirische Beispiele nicht nachgewiesen werden.
KOMPETENZ: Sie liefern eine Unmenge an Daten, die kapitelweise dargestellt werden. Etwa über Armut, Arbeits- und Überstunden in Österreich. Setzen Sie so nicht automatisch Akzente?
Pesendorfer: Wir liefern Daten, die gesellschaftlich relevant sind – das ist eines unserer Qualitätskriterien. Von europäischer Seite haben wir sehr klare Vorgaben, wann wir welche Statistiken zu bestimmten Themen abliefern müssen. Wir können nicht alle fertigen Daten gleichzeitig präsentieren, sondern die Auswahl erfolgt nach dem, was die Daten hergeben und nach gesellschaftspolitischer Relevanz und Debatte.
Innerhalb der Statistiken gibt es auch das Gebot, dass keine einseitige Präsentation der Daten erfolgen darf. Deshalb ist in der europäischen Verordnung klar verankert, dass der Statistik-Chef in jedem EU-Land über Zeitpunkt der Präsentation allein bestimmen können muss. Sonst bestünde die Gefahr, dass über politische Einflussnahme nur ein Teilbereich präsentiert würde. Darüber hinaus haben wir ein nationales Veröffentlichungsgebot: Die Gesamtpalette der Daten ist für jedermann verfügbar, jeder kann überprüfen, ob die Schwerpunkte fair oder einseitig sind. Unser Anspruch ist, das Phänomen in seiner Gesamtheit darzustellen ohne Verzerrung.
KOMPETENZ: Wenn Sie etwa Zahlen zum Gender Pay Gap präsentieren, passiert das in allen EU-Ländern gleichzeitig?
Pesendorfer: Für die meisten Statistiken gibt es eine Deadline, zu der die Daten europaweit präsentiert werden sollen. Wenn wir national schneller sind als andere Länder, werden wir die Statistik nicht ein halbes Jahr lang zurückhalten, weil wir auf den letzten EU-Mitgliedsstaat warten müssen. Aber bei wichtigen Wirtschaftsdaten wie Inflation, Maastricht-Kriterien oder Schuldenstand gibt es klare Veröffentlichungszeitpunkte europaweit.
Der Gender Pay Gap ist ein gutes Beispiel, das die Gesellschaft widerspiegelt. Weil Frauen in Branchen und Berufssparten tätig sind, wo weniger bezahlt wird. Oder sie sind sehr häufig teilzeitbeschäftigt. Daher ist die Einkommenssituation von Frauen schlechter als die von Männern. Die Übertragung der Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist aber nicht auf den Gender Pay Gap zulässig, weil er im internationalen Vergleich unbereinigt präsentiert wird. Man muss trotzdem darüber sprechen – zum genauen Lohnvergleich zwischen Männern und Frauen gibt es andere, sehr detaillierte Statistiken. Wir versuchen immer sehr genau, auf diese Feinheiten hinter den Zahlen hinzuweisen, um eine Fehlinterpretation möglichst hintanzuhalten.
KOMPETENZ: In der Bevölkerung herrscht manchmal Misstrauen gegenüber Statistiken.
Pesendorfer: Ja, allerdings nicht in Bezug auf unsere amtlichen Zahlen. Wir führen oft Diskussionen über Definitionen, und insgesamt ist das Vertrauen in die Zahlen aus unserem Haus sehr stark. Es stimmt, dass in den vergangenen Jahren das Misstrauen gestiegen ist, wenn von Politikern oder in Social Media mit manipulierten Zahlen und Halbwahrheiten operiert wird, deswegen ist die Verunsicherung in der Gesellschaft teilweise groß.
KOMPETENZ: Können Sie kurz den Unterschied zu Umfragen erklären?
Pesendorfer: Wir bekommen in Österreich 95 Prozent der Statistiken über EU-Verordnungen vorgeschrieben. Im Vorfeld gibt es lange Diskussionen über die Definitionen, sodass die Zahlen international vergleichbar sind. Die gesamte Methodik wie Stichprobengröße usw. wird bei uns sehr transparent offengelegt und muss den Qualitätsstandards entsprechen, damit das Ergebnis repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Umfragen, deren qualitative Aussagen durchaus für kleine Gruppen ihre Berechtigung haben. Aber ihre Aussagekraft wird bei einer Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung oft sehr unsicher.
KOMPETENZ: Institute befragen meist 400–500 bis maximal 1.000 Personen. Welche Größenordnung hat eine Stichprobe bei Ihnen?
Pesendorfer: Das ist unterschiedlich je nach Erhebung. Etwa zur Berechnung der Armutsquote werden bei uns 6.000 Haushalte herangezogen, bei der Arbeitslosenquote sind es 20.000 Haushalte. Was uns auch von privaten Instituten unterscheidet, sind die Verwaltungsdaten, die wir stark verwenden. Natürlich sind die Daten, die wir errechnen, politisch relevant. Wenn diese Zahlen nicht erhaben wären über jeden Zweifel in der Methode oder Auswahl der Stichprobe, hätten wir eine große Glaubwürdigkeitsdebatte.
KOMPETENZ: Wie ist Ihr Verhältnis zu Instituten wie WIFO, IHS oder Thinktanks à la Agenda Austria usw.?
Pesendorfer: Es gibt eine ganz klare Aufgabenteilung zwischen Produzenten von statistischen Daten, wie wir das sind, und Forschungsinstituten. Das Treffen von Annahmen aufgrund von Modellrechnungen sollte in wirtschaftlichen Forschungsinstituten passieren. Wir errechnen keine Szenarien für die Zukunft, außer in Bezug auf die Bevölkerung. Bei Statistikproduktionen ist es gut, dass nationale Forschungsinstitute dieses Terrain nicht betreten, weil wir Vorgaben haben, die wir auch auf Ebene der EU, der OECD und der UNO weiterentwickeln.
KOMPETENZ: In einem Interview meinten Sie jüngst, Sie hätten sich auch mit roten Ministern schon Schreiduelle geliefert – warum?
Pesendorfer: Es kann natürlich sein, dass aufgrund unserer Unabhängigkeitsstellung und wissenschaftlicher Erhebungsmethoden ein Ergebnis für einen Minister eine negative Nachricht darstellt. Wenn deshalb jemand die genaue Erhebung der Daten kritisiert, fehlt das grundsätzliche Verständnis für diese notwendige Trennung zwischen politischem Interesse und der Verpflichtung zur Neutralität. Da gibt’s manchmal Erklärungsbedarf, der in Ausnahmefällen auch lautstark werden kann.
KOMPETENZ: Die Wirtschaftskrise hat speziell im Fall Griechenland die Statistik unter Zugzwang gebracht. War das ein reinigendes Gewitter?
Pesendorfer: Es hat zu zwei Konsequenzen geführt: In Griechenland wurde das Statistische Amt neu gegründet und dessen Unabhängigkeit gesetzlich verankert. Und die europäische Behörde Eurostat wurde mit einer Prüfkompetenz ausgestattet, sodass etwa Prüfbesuche auch sehr kurzfristig angesetzt werden können und die Manipulation von Daten strafbar ist. Das Beispiel Griechenland zeigt, dass Unabhängigkeit nicht nur im Gesetzestext zu verankern ist. Sondern es braucht auch die Kultur, mit dieser Unabhängigkeit leben zu können.