Die Volkshilfe schlägt Alarm: Immer mehr Familien suchen um Unterstützung aus dem Kinder-Gesundheitsfonds an. Im ersten Quartal 2021 haben sich die Anträge im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht.
Es sind Corona-Spätfolgen der anderen Art, die die Volkshilfe Österreich seit Beginn des Jahres beobachtet: „Die Ansuchen beim Kinder-Gesundheitsfonds haben sich im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahr beinahe verdreifacht“, schildert Hanna Lichtenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Arbeitsschwerpunkt Kinderarmut. Und das sei erst der Anfang. Die Expertin rechnet damit, dass sich die Lage weiter zuspitzt, weil die prekäre Lebenssituation von Eltern, etwa durch anhaltende Arbeitslosigkeit, noch stärker durchschlagen wird. Zudem sei die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen nach mehr als einem Jahr Pandemie längst nicht bewältigt. Vor diesem Hintergrund hat die Volkshilfe in einem aktuellen Papier unter dem Titel „Kindergesundheit sichern – Gesundheitliche Folgen von Kinderarmut in Österreich“ die aktuelle Situation aufgearbeitet – und 30 gesundheitspolitische Forderungen abgeleitet.
„Die Ansuchen beim Kinder-Gesundheitsfonds haben sich im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahr beinahe verdreifacht“
Hanna Lichtenberger
Unterstützung bei Therapien und Prävention
Konkret zählte die Volkshilfe in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres bereits 156 Anträge von armutsgefährdeten Familien mit direktem Bezug zu gesundheitlichen Problemen: In fast 40 Prozent der Fälle geht es darum, Kosten für Therapien aller Art mitzutragen – dazu zählen etwa Logo-, Ergo- oder Psychotherapie. Rund 20 Prozent der Ansuchen drehen sich um Unterstützung für zahn-/kiefermedizinische Leistungen, weitere 13 Prozent beziehen sich auf Gesundheitsprävention. „Wir stellen fest, dass sich die Lage durch die Corona-Krise noch einmal verschärft hat. Alle Formen von Therapien sind eine massive Herausforderung, weil die Anzahl der Kassenplätze zu gering ist. Aber auch präventive Maßnahmen wie Sport oder Camps für übergewichtige Kinder werden in dem Fonds berücksichtigt“, erklärt Judith Ranftler, Bereichsleiterin mit Fokus Kinder & Jugend bei der Volkshilfe.
„Wir stellen fest, dass sich die Lage durch die Corona-Krise noch einmal verschärft hat. Alle Formen von Therapien sind eine massive Herausforderung, weil die Anzahl der Kassenplätze zu gering ist.“
Judith Ranftler
Ins Leben gerufen wurde der Gesundheitsfonds vor rund drei Jahren: „Wir haben schon vor der Pandemie festgestellt, dass es Bedarf gibt. Der entsteht etwa dadurch, dass es Selbstbehalte im Gesundheitssystem gibt, die für armutsbetroffene Familien sehr schwer zu stemmen sind“, sagt Ranftler. Der Topf, der primär über Spenden gespeist wird, steht Betroffenen in ganz Österreich zur Verfügung. Bisher konnten mehr als 500 armutsgefährdete Kinder und Jugendliche unterstützt werden.
Kinderarmut ist kein Randphänomen
Corona hat die Probleme durchaus beschleunigt – vorhanden waren sie aber schon davor: Immerhin gelten in Österreich mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche als armuts- und ausgrenzungsgefährdet: Das ist jedes 5. Kind. In ihrem Bericht zur Kindergesundheit weist die Volkshilfe auf mittlerweile mehrfach belegte Zusammenhänge hin, wonach ein Leben in Armut die physische und psychische Gesundheit der jungen Generation beeinträchtigt: „Kinder aus armutsgefährdeten Familien leiden häufiger an chronischen Krankheiten. Sie sind häufiger übergewichtig, haben ein erhöhtes Unfallrisiko, leiden auch öfter an psychosomatischen Symptomen. Sie fühlen sich zudem weniger gesund und leistungsfähig, was sie auch in anderen Lebensbereichen, etwa in der Schule, benachteiligt“, fassen die Expertinnen zusammen.
„Kinder aus armutsgefährdeten Familien leiden häufiger an chronischen Krankheiten. Sie sind häufiger übergewichtig, haben ein erhöhtes Unfallrisiko, leiden auch öfter an psychosomatischen Symptomen. Sie fühlen sich zudem weniger gesund und leistungsfähig, was sie auch in anderen Lebensbereichen, etwa in der Schule, benachteiligt“
Judith Ranftler und Hanna Lichtenberger
Eine Umfrage der Volkshilfe gemeinsam mit der Ärztekammer aus dem Jahr 2019 untermauert diese Analyse: Knapp die Hälfte der ÄrztInnen hat damals angegeben, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien häufiger die Ordination aufsuchen, als Gleichaltrige aus sozial bessergestellten Haushalten. Sechs von zehn MedizinerInnen haben die Frage, ob Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien öfter an chronischen Krankheiten leiden, eindeutig mit „Ja“ beantwortet. „Dazu kommen vermehrt psychosomatische Probleme wie Schlafstörungen oder Kopfschmerzen“, ergänzt Ranftler. „Wir haben viele Jugendliche interviewt und dabei festgestellt, dass gerade das Thema Schmerzen für die meisten etwas ganz selbstverständliches war.“ Soll heißen: Für diese Kinder ist es „ganz normal“, dass sie Schmerzen haben. „Ich halte das für gravierend, denn es fehlt in der Folge oft der Impuls, diese Probleme behandeln zu lassen.“
Nicht weniger Tragweite hat das Thema Bewegung und Sport. Interviews und Studien zeigen, dass Buben und Mädchen aus Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen weniger Sport machen und sich weniger intensiv bewegen. Das liegt zum einen daran, dass die Eltern keine Sport- und Freizeitgeräte für draußen finanzieren können wie etwa Fahrräder oder Roller. Zum anderen zeigt sich in den Ergebnissen des Volkshilfe-Forschungsprojektes, „dass armutsbetroffene Kinder eher Sportarten wählen, die ohne großen Kostenaufwand und an öffentlichen (Spiel)Plätzen betrieben werden können.“ Ranftler: „Diese Kinder denken gar nicht mehr an Vereinssport, sondern an Bewegungsmöglichkeiten, die günstig sind.“ Die Klassiker: Laufen gehen oder Fußball spielen im Park.
Forderungen für die Zukunft
Alles in allem fällt der Befund für den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen aus sozial schlechter gestellten Familien also wenig zufriedenstellend aus. Entsprechend umfangreich ist der Forderungskatalog, den die Volkshilfe zusammengestellt hat. Dabei steht das Thema „Kostenfreiheit für Maßnahmen zur Mund- und Zahngesundheit“ für Ranftler ganz oben auf der Liste: „In diesem Bereich kommt es immer wieder zu einem finanziellen Aufwand, der für die Familien einfach nicht leistbar ist.“ Mundhygiene und Zahnregulierungen sollten daher für diese Kinder kostenfrei sein – zumal damit teure Spätfolgen verhindert werden könnten. Kurzfristig ebenso wichtig ist die ausreichende Versorgung bei psychischen Belastungen. Die jüngste Aufstockung der Plätze für Psychotherapie seitens der Österreichischen Gesundheitskasse war ein erster Schritt – „es braucht aber mehr verfügbare Plätze, gerade für die Kinder“, appelliert Lichtenberger.