Das beste Rezept gegen die Krise ist eine Stärkung der Kaufkraft der arbeitenden Menschen. Dafür gibt es genügend Spielraum.
„Die Mindestlöhne sind schuld an der Arbeitslosigkeit.“ Diese Äußerung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom April bringt es auf den Punkt, worin verantwortliche europäische Politiker derzeit den Schwerpunkt in der Krisenbewältigung sehen. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, müsse Zurückhaltung bei Löhnen und Gehältern geübt werden und der Sozialstaat zurückgenommen werden, so das Credo maßgeblicher Vertreter aus Wirtschaft und Politik. Wer etwa glaubt, aufgrund der Krisenerscheinungen würde es zu einem Kurswechsel in der europäischen Politik kommen, hat sich getäuscht: Noch mehr vom gleichen lautet das Rezept, obwohl genau das Europa in die größte ökonomische, soziale und wohl auch politische Krise seit dem 2. Weltkrieg geführt hat.
Einschnitte im Sozialsystem
Verkauft wird diese Politik unter dem Begriff „Strukturreform“ – was nicht etwa eine Reform jener Strukturen des Wirtschaftssystems meint, die die Krise verursacht haben, wie deregulierte Finanzmärkte oder zu hohe Vermögenskonzentration, sondern primär Einschnitte in die sozialen Rechte und das Lohnniveau der unselbständig Beschäftigten. Es handelt sich also um die Fortsetzung der neoliberalen Ökonomie, die suggeriert, dass ein Mehr an Ungleichheit Bedingungen erzeugt, die einer wirtschaftlichen Dynamik dienlich sind. Die exorbitant gestiegene Ungleichverteilung ist eine Folge des jahrzehntelangen Zurückbleibens der Einkommen der unselbständig Erwerbstätigen hinter den Einkommen von Kapitalbesitzern und Vermögenden.
Die Reichen wurden reicher
Der deutsche Ökonom Gustav Horn von der Hans-Böckler-Stiftung belegte diese Entwicklung erst kürzlich vor GPA-djp BetriebsrätInnen im Austria Center Vienna mit konkreten Zahlen aus Deutschland. Demnach sei die Wohlstandsvermehrung überhaupt nicht in der unteren Hälfte der Einkommensbezieher angekommen, sondern bei den oberen und hier wieder insbesondere bei dem 1 Prozent der Reichen und Superreichen.
Horn führt diese Entwicklung auf mehrere Faktoren zurück. So sei gemäß der neoliberalen Lehre ein Niedriglohnsektor etabliert worden, die tarifvertragliche Abdeckung abgebaut und dadurch den Gewerkschaften immer schwerer gemacht worden, für die Beschäftigten flächendeckende Lohnerhöhungen durchzusetzen, die gemäß der Produktivitätsentwicklung möglich und sinnvoll wären. Auch eine Steuerpolitik, die Gewinne und Vermögen gegenüber den Einkommen aus Arbeit bevorzugt, förderte diese Entwicklung massiv.
Dies führte zum gewollten Effekt, dass sich die deutsche Wirtschaft gegenüber Konkurrenten am Weltmarkt Wettbewerbsvorteile verschaffen konnte. Dieser Vorteil für die deutsche Wirtschaft führe aber zu sehr unerfreulichen Nebeneffekten, die gerade jetzt spürbar werden, so Horn.
Für eine offensive Lohnpolitik
Durch die Schwächung der Nachfrage infolge des Zurückbleibens der Arbeitseinkommen kann derzeit die Wirtschaft kaum eine neue Dynamik erlangen. Das wirtschaftliche Modell der Lohnzurückhaltung führt zu außenwirtschaftlichen Überschüssen und somit notgedrungen zu Schuldenpositionen in anderen Ländern. Durch die Währungsunion entfällt aber für diese Länder die Möglichkeit der Währungsanpassung, sodass der Rückgang der Wirtschaftsleistung und Massenarbeitslosigkeit notgedrungen auftreten und diese Staaten auch als Abnehmer für Produkte aus Deutschland entfallen. Eine gefährliche Spirale nach unten beginnt sich derzeit zu entwickeln, die nicht nur die Krisensaaten des Süden Europas betrifft.
Horn verlangt eine Umorientierung in der Wirtschaftspolitik insbesondere in Deutschland mit einer offensiven Lohnpolitik, die die Produktivitätsfortschritte in vollem Ausmaß an die Beschäftigten weiter gibt. Nur so könne ein dauerhaftes ökonomisches Gleichgewicht hergestellt werden. Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen sei nämlich, so Horn, nicht nur ein ethisch-moralisches Problem, sondern in hohem Ausmaß auch ein ökonomisches und ein Hauptgrund, warum Europa derzeit nicht aus der krisenhaften Entwicklung herausfindet.
Verteilungsspielraum
Dass genug Verteilungsspielraum für eine offensive Lohnpolitik da ist, zeigen etwa die Daten, welche die Arbeiterkammer kürzlich erhoben hat. In den Unternehmen, die ihre Bilanzen veröffentlichen müssen, sind die Dividenden, das sind die Zahlungen an die Eigentümer sind in den analysierten Unternehmen, fast halb so hoch wie Lohn- und Gehaltssumme! Während die Eigentümer bei Lohnerhöhungen ab der Inflationsrate von etwa 2,5 Prozent behaupten, das könnten sie sich nicht leisten, entnehmen sie den Unternehmen Dividenden im Ausmaß von 45 Prozent der Lohnsumme.
Glücklicherweise hat Österreich durch eine hohe KV-Abdeckung nicht jene massiven Probleme wie in Deutschland. So ist auch das Verarmungsrisiko in Österreich geringer. Dennoch wird auch bei uns der Druck größer, gemäß der neoliberalen Wettbewerbsideologie, gewachsene Lohnfindungsstrukturen zu zerstören und somit die Position der Gewerkschaften nachhaltig zu schwächen oder über weitere Flexibilisierungen die Lohn- und Gehaltskosten zu senken.
Aber nicht zu hohe Löhne sind schuld, dass Europa derzeit nicht aus der Krise findet, sondern jene Kräfte, die verhindern, dass die Wohlstandszuwächse bei den Menschen ankommen, die sie erwirtschaftet haben.