Sie gehören längst zum Alltagsbild jeder Wohnsiedlung und jedes Wohnbaus: Die kleinen, von PaketzustellerInnen hinterlassenen Kärtchen. Man sei leider nicht dagewesen, das Paket sei entweder bei der Nachbarin hinterlegt oder man komme später wieder – „leider haben wir Sie verpasst.“
„Leider haben wir Sie verpasst“ – „Sorry We Missed You“ heißt der neue Film des englischen Regisseurs Ken Loach. Er zeigt am Beispiel einer Arbeiterfamilie im nordenglischen Newcastle welche Abgründe sich hinter den kleinen Kärtchen verbergen. Dabei geht es um viel mehr als die miesen und prekarisierten Arbeitsbedingungen bei den Paketlieferdiensten. Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty machen ein viel größeres Fass auf. Gezeigt werden Individualisierung, Vereinzelung und Zerfall einer ganzen Gesellschaft im Miniaturformat. Laverty hat in seinen Drehbüchern schon immer großes Talent darin bewiesen aus Statistiken Individuen mit Gesicht und eigener Geschichte zu machen. Loach besitzt demgegenüber die Gabe, diese Geschichten authentisch und auf Augenhöhe mit den Charakteren in Szene zu setzen.
Hier ist eine aktuelle Statistik der britischen Health Foundation aus dem Februar 2020. Demnach ist die Zahl der arbeitenden Menschen mit „zero hours“ Verträgen in England von 168.000 im Jahr 2010 auf 900.000 im Jahr 2018 angestiegen. „Zero hours“ Verträge sind Arbeitsverträge welche weder fixe Arbeitszeiten noch ein Mindestgehalt garantieren, von Beschäftigten aber Abruf- und Einsatzbereitschaft rund um die Uhr abfordern. Vor allem Frauen und Menschen unterer Einkommensgruppen sind von diesen Verträgen betroffen. 14 Millionen Menschen leben in Großbritannien unterhalb der Armutsgrenze, die meisten von ihnen arbeiten. Es ist kein Wunder, dass inzwischen die Lebenserwartung armer Bevölkerungsgruppen sinkt.
Diese Menschen werden in „Sorry We Missed You“ durch den Familienvater Ricky und seine Frau Abbie repräsentiert. Gemeinsam versuchen sie unter widrigen Umständen ihre Kinder Seb und Liza Jane durchzubringen. Ricky war eigentlich ein Bauarbeiter, dann kam die Finanzkrise im Jahr 2009 und der Job war futsch. Ricky ist stolz. Er will nicht vom Arbeitslosengeld leben. Da kommt das Angebot eines Paketzulieferers gerade recht. Der Clou: Ricky ist nicht mehr lohnabhängig, er wird selbstständiger Fahrer. „Das ist kein Job, das ist eine Dienstleistung“ erklärt man ihm beim Bewerbungsgespräch. Ricky ist begeistert und überredet seine Frau ihr Auto zu verkaufen damit er von diesem Geld einen Lieferbus kaufen kann.
Die Männer mit den weißen Lieferwägen
„Was, jetzt fährst du als weißer Lieferwagen-Mann durch die Gegend?“ fragt Sohn Seb seinen Vater zweifelnd. „White van men“- „die Männer mit den weißen Lieferwägen“. Sie sind ein ikonisches Bild des heutigen Großbritanniens. Vor vielen Wohnhäusern zahlreicher Straßenzüge stehen sie dort herum. Sie versinnbildlichen die dramatische Wandlung der britischen Wirtschaftsweise seit den 1980er Jahren. Wo es früher Industriejobs gab, sind die Menschen heute auf sich selbst zurückgeworfen. Mit weißen Lieferwägen fahren sie umher und verrichten Dienstleistungen – wie eben auch das Ausliefern von Paketen.
Es ist eine Wirtschaftsweise die kollektives Handeln nur schwer zulässt. Gemeinschaftserlebnisse mit KollegInnen gibt es für Ricky nur, wenn er Morgens im Firmendepot seinen Van belädt. Dort erhält er kameradschaftliche Ratschläge wie jenen, besser eine Plastikflasche zum Hinein pinkeln mitzuführen. Der Zeitdruck lasse den Gang aufs Klo nicht zu. Die Überwachung durch die Firma ist total. Jede FahrerIn hat einen eigenen Pager der anfängt zu piepsen, wenn man für zwei Minuten nicht im Lieferwagen sitzt. Im weißen Lieferwagen ist jeder für sich allein dem Terror des nur als Maschine präsenten Arbeitgebers ausgeliefert.
Ricky ist „selbstständig“, auch wenn er nur für eine einzige Firma fährt. Das bedeutet: Urlaub ist nicht, es sei denn er findet einen Ersatzfahrer. Krankenstand ist nicht, es sei denn Ricky kann garantieren, dass die Pakete trotzdem ausgeliefert werden. Plötzlicher Familiennotfall? Ricky kann keine spontane Auszeit nehmen. Für zu spät gelieferte Pakete hagelt es Geldstrafen.
Unmögliche Doppelbelastungen
Ähnliche Erfahrungen macht seine Frau Abbie. Sie hat einen „zero hours“ Vertrag bei einem privaten häuslichen Pflegedienst. Sie fährt mit aufgrund von Privatisierung und Einsparungen notorisch schlechten Busverbindungen zu pflegebedürftigen Menschen nach Hause (ihr Auto hat Ricky ja verkauft) um ihnen Essen zu bereiten, mit ihnen auf Toilette zu gehen und sie halbwegs präsentabel zu halten. Für zwischenmenschliche Zuwendung ist kaum Platz, die Taktung durch die Firma ist eng. Bezahlte Pausen hat sie nicht.
Daneben schupft sie einen Haufen unbezahlter psychosozialer Pflegearbeit für ihre Familie. Wenn der Sohn die Schule schwänzt kriegt sie den wütenden Anruf vom Direktor, nicht Ricky. Sie kümmert sich darum, dass die Kinder essen auf dem Tisch haben, wenn beide Eltern Abends aufgrund langer Arbeitszeiten nicht daheim sind. Kein Wunder, dass Abbie zunehmend die Nerven verliert während auch Ricky in seinem Lieferwagen bald nicht mehr weiß wo ihm der Kopf steht.
Auch Abbie erlebt keine kollektive Solidarität durch KollegInnen. Wie Ricky arbeitet sie allein. Zuspruch kommt teilweise durch mit ihr wartende Frauen an der Bushaltestelle oder einer Klientin. Einmal zeigt ihr eine Klientin alte Bilder vom Bergarbeiterstreik 1984. Die heute pflegebedürftige Frau war damals aktiv in der Bewegung und leitete eine Streikküche für hunderte Streikende und deren Angehörige. Diese alten Fotos sind das einzige Mal, dass Gewerkschaften im ganzen Film vorkommen.
Totaler Kontrollverlust – gewerkschaftliche Herausforderung
„Sorry we missed you“ zeigt den totalen Kontrollverlust von Menschen anhand einer anonymen, herzlosen Maschinerie. Ein ähnliches Thema hat das Lavery-Loach Gespann schon im Film „I Daniel Blake“ bearbeitet. Letzterer Film zeigt wie ein aufgrund einer Herzattacke berufsunfähiger Mann am kaputt gesparten britischen Sozialsystem scheitert. Kontrollverlust ist ein machtvolles Thema, gerade in Newcastle, der Stadt in der beide Filme spielen. Hier gab es große Mehrheiten für den Brexit. „Holt Euch die Kontrolle zurück“ war der zentrale und sehr erfolgreiche Slogan der Brexit-Befürworter.
Das subversive Element in „Sorry we missed you“ besteht aus dem Sohn Seb und dessen FreundInnen. Seb hat keine Lust darauf sich für sinnlose Billigjobs kaputt zu schuften. Auch hat er keine Lust auf die Uni zu gehen, winken als Perspektive doch nur haushohe Schulden aufgrund der Studiengebühren und ein Callcenterjob. Seb lebt andere Werte und gerät deshalb in Konflikt mit Familie und Autoritäten.
Tatsächlich ist es in Großbritannien gerade die junge Generation welche zunehmend bereit ist für eine sozial gerechte Welt zu kämpfen. Sie lehnt den Neoliberalismus der Elterngeneration vehement ab. Es ist Herausforderung und Aufgabe für die Gewerkschaftsbewegung zugleich, diese jungen Leute zu erreichen.