„Das fällt ja alles nicht vom Himmel“

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Kompetent, eloquent und empathisch führt Nora Pradl seit fast 20 Jahren den ÖAMTC-Betriebsrat an. Dabei geht ihr manches Einzelschicksal auch nahe und hat sie die Sozialpartnerschaft zu schätzen gelernt.

Nora Pradl redet gerne und viel. Sie ist „ein Arbeitstier“, wie sie sich in ihrer direkten Art über andere und auch über sich selbst ausdrückt. Was bei ihr noch stark zu bemerken ist: Einschneidende Erlebnisse in ihrem beruflichen wie familiären Leben haben sie offensichtlich geprägt.

Die Wiener Juristin ist seit 2001 Vorsitzende des Betriebsrates bei Österreichs größtem Automobilclub, dem ÖAMTC, nachdem ihr Vorgänger erkrankte. Schon davor gehörte sie dem Gremium an – und dachte sich hin und wieder, „ich würde eine Sitzung anders leiten“. Bevor sie für die Funktion als Arbeitnehmervertreterin freigestellt wurde, war sie 16 Jahre lang Verkehrsjuristin, um Rechtsansprüche, von Schmerzensgeld bis Schadenersatz, für die Club-Mitglieder durchzusetzen.

Unkonventionelle Hilfe

Das habe ihr große Freude bereitet, sagt Nora Pradl im Interview mit der KOMPETENZ. „Da habe ich unheimlich dazugelernt psychologisch.“ Denn die Fälle sollten, egal wie, aber zufriedenstellend gelöst werden, so die Vorgabe ihres damaligen Vorgesetzten. „Diese unkonventionelle Art zu helfen, hat mich beflügelt, das muss man auch wollen.“ Und das scheint sie von zu Hause mitbekommen zu haben.

Fels am Wagram in Niederösterreich ist der Ort, in dem die Juristin in einem Tierarzt-Haushalt aufgewachsen ist. Das bäuerlich dominierte Dorf stellte in den 1980er Jahren immer mehr auf Weinbau um. Aber speziell ihr Vater rückte noch von einer Sekunde auf die andere aus, um dem Großvieh zu helfen, erzählt Pradl bereitwillig. Da hieß es: „Der Bauer wartet nicht, wenn die Kuh kalbt und das Schwein Rotlauf hat, sondern du musst losfahren.“ Für Nora und ihre Schwester bedeutete das: „Praxis ist – statt Prater.“

„Also die Quote ist nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass in der Berufsgruppe viele Männer arbeiten.“

Nora Pradl

Heute vermittelt die End-Fünfzigjährige ebenfalls einen hemdsärmeligen Eindruck und dass sie als Betriebsratschefin alles liegen und stehen lässt, um Anfragen von KollegInnen befriedigend zu beantworten. Zuständig ist sie für nicht weniger als 1771 Beschäftigte sowie 32 Lehrlinge in Wien, Niederösterreich und Burgenland in sämtlichen Betrieben, also Fahrtechnikzentren und Reisebüros, des föderal strukturierten ÖAMTC. Unter den Angestellten sind 677 Frauen. „Also die Quote ist nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass in der Berufsgruppe viele Männer arbeiten.“

ÖAMTC-Solidaritätsfond

Arbeitsrechtliche Fragen aufgrund der Corona-Pandemie reichen denn auch von Teleworking über Sonderbetreuungszeit bis zum clubeigenen Solidaritätsfonds. Der wurde aus Alturlauben bestückt bis Jahresende, so dass die MitarbeiterInnen insgesamt zigtausend Stunden Urlaub freiwillig, aber solidarisch abbauen. Speziell im Bereich der Reisebüros gehe es um mehr als 30 Beschäftigte, die ihren Job nicht ausüben können wie bisher. Trotz „großartiger“ Kurzarbeit konnte so der Nettolohn erhalten werden, betont Nora Pradl. „Es hat uns alle kraftlos gemacht.“ Und sie sinniert: „Was ich nicht beeinflussen kann, ist, wie es jetzt einem Reisebüroagenten geht, der derzeit nur Rücküberweisungen macht.“

Die Betriebsratschefin verhehlt nicht, dass ihr das Schicksal einzelner MitarbeiterInner sehr nahe geht. Etwa das eines Familienvaters mit zwei kleinen Kindern, dessen Ehefrau nach einem Selbstmord eines morgens tot neben ihm im Bett lag; für ihn gab es spontan Spenden und eine Dienstfreistellung. Die anfängliche Unsicherheit, ob der Betriebsratsvorsitz überhaupt eine für sie geeignete Tätigkeit wäre, ist längst gewichen und hat Platz gemacht für ehrgeizigen Selbstanspruch. „Ich bereue es nicht, weil jeder Morgen Überraschungen birgt“, bekennt Nora Pradl. Gleichzeitig spricht sie auch von „Angst, was im nächsten Monat sein wird“. Da sei das Commitment, das Versprechen der Geschäftsleitung, „wir werden euch alle durch die Krise bringen“, sehr wichtig für die Vertretung der ArbeitnehmerInnen.

Ich mache die Fälle gerne zu den meinen, das ist eine Schwäche von mir

Nora Pradl
Fotos: Nurith Wagner-Strauss

„Ich kämpfe um die Rolle, die wir haben.“ Hier versteht sich Nora Pradl ganz klar als Vermittlerin. „Mein Hauptthema ist Interessenausgleich.“ Diesbezüglich gebe es immer wieder etwas auszubügeln. BetriebsrätInnen dürften sich nicht „aufmunitionieren“ lassen durch Zurufe anderer. Sie habe gelernt, beide Seiten anzuhören. Dabei sei sie sicherlich nicht immer nur elegant, manchmal vielleicht zu forsch gewesen, bekennt sie.

„Die Kunst des Betriebsrates ist, Transparenz zu zeigen und Wissen zu haben. Und menschlich zu bleiben. Ich mache die Fälle gerne zu den meinen, das ist eine Schwäche von mir – auch wenn ich mir hundert Mal vorsage, komm, schalt ab. Das geht auf der Prater Hauptallee, wenn ich ein Läufchen mache oder der Hund meines Freundes ist da – dann sehe ich, dass es auch noch anderes im Leben gibt. Man braucht die Abschaltzeit zur Selbstreflexion. Reflexion ist die Bedingung, dass man nicht überheblich wird.“

„Die Jungen sollen einer Gewerkschaft beitreten! Und ich sage das nicht, weil Sie hier bei mir sitzen. Sie sollen froh sein, dass es eine Arbeitsverfassung gibt – das fällt ja alles nicht vom Himmel.“

Nora Pradl

So kompetent, eloquent und empathisch Nora Pradl wirkt, hat auch sie kraftlose Momente. Wenn sie glaubt, nicht mehr weiter zu können, tröstet sie der Gedanke an ihr einstiges Elternhaus: Der Vater starb bereits mit 53 Jahren, die Mutter, ebenfalls Tierärztin, schaffte es dennoch, unter den traditionellen Landwirten akzeptiert zu sein. Letztlich scheint sie Energie zu gewinnen aus dem Feedback, das sie bekommt. Ihr Credo: „Bleib, wie du immer warst! Künsteln hat keinen Sinn. Ich will nicht das Gefühl vermitteln, dass ich mit der Geschäftsleitung nur packel nach dem Motto, die machen sich’s oben aus“, macht sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube.

Zu Beginn und am Ende unseres Gespräches ist die Betriebsratsvorsitzende voll des Lobes für die Arbeit von Gewerkschaften. Offiziell gehört sie zwar der Fraktion Christlicher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter (FCG) an. Wiewohl Parteipolitik für sie keine Rolle spielt. „Ich bin begeisterte Wechselwählerin.“ Es sei zulässig in einer Demokratie, sich situativ ein Bild zu machen. Vor allem aber appelliert Nora Pradl: „Die Jungen sollen einer Gewerkschaft beitreten! Und ich sage das nicht, weil Sie hier bei mir sitzen. Sie sollen froh sein, dass es eine Arbeitsverfassung gibt – das fällt ja alles nicht vom Himmel.“

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