Wie einige mächtige Staaten die Aufhebung der Patente für die COVID-Impfstoffe blockieren und so verhindern, dass die Pandemie weltweit besiegt werden kann.
Ein Kompetenz-Artikel von Mitte Juli zum Thema Impfstoff-Patente beginnt mit der Frage: „Alpha, Beta, Gamma, Delta. Kennen Sie noch mehr?“. Mittlerweile kennen wir Omikron. Die COVID-Mutante ist nach allem, was bisher bekannt ist, infektiöser als sämtliche ihrer Vorgänger. ExpertInnen befürchten, Immunisierungen könnten gegenüber Omikron/B.1.1.529 weniger Schutz bieten als gegenüber anderen Varianten. Ein Gipfel der Welthandelsorganisation WTO in Genf, auf dessen Agenda stand, genau ein solches Szenario zu verhindern, wurde nun kurzfristig verschoben – wegen Omikron. Die Geschichte, wie es so weit kommen konnte, ist eine zynische, eine tödliche.
Anfang Oktober vergangenen Jahres reichen Indien und Südafrika einen offiziellen Antrag für eine Ausnahmegenehmigung des TRIPS-Abkommens ein. Das TRIPS-Abkommen (englisch für Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Agreement) regelt die geistigen Eigentums- und Patentrechte. Ziel des sogenannten TRIPS-Waivers ist es, Patente auf geistiges Eigentum temporär auszusetzen, um Ländern ohne entsprechende Ressourcen den Zugang zu COVID-19-Impfungen, Tests und medizinischem Gerät zu erleichtern.
Gerechte Verteilung könnte Corona-Todesfälle halbieren
Die Patente erlauben es einigen wenigen Pharmakonzernen, die Produktionskapazitäten und den Preis von Impfstoffen zu kontrollieren. Und die Patente verunmöglichen es insbesondere ärmeren Staaten des Globalen Südens, eigene Produktionsstätten aufzubauen oder kostengünstigere Generika zu produzieren. Der Patentschutz verunmöglicht es diesen Staaten, ihre eigene Bevölkerung zu schützen. Während in Österreich über den 3. Stich diskutiert wird und unlängst eine Pflicht zur Impfung angekündigt wurde, sind in Uganda gerade einmal 1,9 Prozent, in Burkina Faso 1,4 Prozent der Bevölkerung vollimmunisiert. Insgesamt haben in low-income-countries 5,7 Prozent der Bevölkerung vollständigen Impfschutz. In der EU sind es gut zwei Drittel.
Der Initiative von Südafrika und Indien schließen sich schnell mehr als 100 Staaten an, nach einigem Zögern (und mit Einschränkungen) auch die USA. Die Europäische Union, Norwegen, Großbritannien und die Schweiz jedoch blockieren. Dem Vernehmen nach sollen sich innerhalb der EU vor allem Deutschland und die EU-Kommission gegen den TRIPS-Waiver stemmen.
Bereits im Herbst 2020 zeigt eine Studie britischer und italienischer ForscherInnen, dass eine egalitärere Verteilung der Impfstoffe die weltweiten Todesfälle in Verbindung mit Corona hätte halbieren können. PolitikerInnen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Prominente aus der ganzen Welt kritisieren daraufhin das moralische Versagen der Weltgemeinschaft. Das ‚Recht‘ auf geistiges Eigentum, das ‚Recht‘ auf Profite von Pharmakonzernen würden über das Leben von Millionen von Menschen gestellt. Die Gesundheit der eigenen Bevölkerung liege nicht in den Händen von Regierungen, sondern unterstehe den Interessen von CEOs. UNAIDS-Direktorin Winnie Byanyima spricht im britischen Guardian von einer „Impfstoff-Apartheid“.
„No one is safe from COVID, unless everyone is safe”
John Mark Mwanika
„Niemand ist vor COVID sicher, solange nicht alle sicher sind.“
Trügerische Sicherheit
Doch die globale Ungleichverteilung des Impfstoffs ist nicht nur aus moralischer Sicht fragwürdig, sondern auch aus medizinischer. „No one is safe from COVID, unless everyone is safe”, solange nicht jede und jeder immunisiert ist, kann sich niemand in Sicherheit wiegen, bekräftigt John Mark Mwanika, Programmbeauftragter der Verkehrsgewerkschaft Uganda und HIV/AIDS-Experte bei einer Onlinekonferenz von Our World Is Not For Sale, einer globalen Initiative, die sich dem Kampf für den TRIPS-Waiver verschrieben hat. Auch wenn in Europa eine (relative) Eindämmung des Infektionsgeschehens gelingen mag, erhöht das Festhalten an den COVID-Patenten die Wahrscheinlichkeit für ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen und damit die Wahrscheinlichkeit für Mutationen andernorts. Und diese werden ihren Weg früher oder später auch nach Europa finden. „This is not by mistake, this is by choice – and it’s a harmful choice”, kritisiert Mwanika. Also das sei kein Fehler sondern eine bewusste Entscheidung – und zwar eine schädliche Entscheidung.
Türkis und Grün beschreiten unkonventionelle Wege
Am 8. November spricht sich auch der österreichische Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) öffentlich für das „vorübergehende Aussetzen von Patenten“ aus. Aufgrund der globalen Ausnahmesituation müsse man „unkonventionelle Wege gehen“. Wenige Tage später stimmt dann ÖVP-Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck bei einem EU-Gipfel gegen die Initiative. Eine Kompetenz-Anfrage an das Wirtschaftsministerium blieb unbeantwortet. In öffentlichen Statements von Schramböck begründete diese ihre Entscheidung in der Vergangenheit stets mit dem Argument, „das grundsätzliche Problem“ liege „nicht bei der Produktion, sondern bei der Distribution“.
Mittlerweile unterstützen neben über 100 Staaten und dem EU-Parlament auch 140 ehemalige RegierungschefInnen und NobelpreisträgerInnen, hunderte NGOs und Gewerkschaften die Initiative Indiens und Südafrikas.
Der IGB (Internationaler Gewerkschaftsbund), der EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund), der EPSU (Europäischer Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienste) und weitere namhafte Verbände weltweit unterstützen das. Auch der ÖGB unterstützt die Forderung nach einem Aussetzen der Vorschriften für geistiges Eigentum.
„Die seit über einem Jahr andauernde EU-Blockade des TRIPS-Waiver ist verantwortlich für den mangelnden Zugang zahlreicher Länder zu Impfstoffen und damit auch für die Entstehung neuer Varianten wie Omikron“
David Walch
Vom 30. November bis 3. Dezember sollte die 12. MinisterInnenkonferenz der WTO in Genf stattfinden, auf welcher auch eine Diskussion über die Freigabe der Impfstoffpatente auf der Tagesordnung stand. Der Gipfel wurde nun kurzfristig vertagt, weil zahlreiche Delegierte aus dem Globalen Süden nicht anreisen konnten – wegen der neuen Virusvariante Omikron.
„Die seit über einem Jahr andauernde EU-Blockade des TRIPS-Waiver ist verantwortlich für den mangelnden Zugang zahlreicher Länder zu Impfstoffen und damit auch für die Entstehung neuer Varianten wie Omikron“, kritisiert David Walch, Sprecher von Attac Österreich, in einer Aussendung.
Letztlich ist es das moralische und medizinische Versagen einiger mächtiger Staaten, das es nun medizinisch verunmöglicht, das moralische Versagen zumindest zu korrigieren. Ein neuer Termin für die MinisterInnenkonferenz ist noch nicht bekannt.