Die globale „Impfstoff-Apartheid“

Foto: Alet Pretorius / AP / picturedesk.com

Während sich reiche Staaten mit Impfstoff eindecken, droht die Situation in ärmeren Weltgegenden zu eskalieren. Das könnte sich für Österreich und Europa nicht nur moralisch rächen.

Alpha, Beta, Gamma, Delta. Kennen Sie noch mehr? Hoffentlich. „Denn wir werden noch viele griechische Buchstaben brauchen, wenn wir bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie auf globaler Ebene nicht solidarischer handeln“. Diese Warnung kommt von einem, der es wissen muss: Marcus Bachmann, humanitärer Berater für Ärzte ohne Grenzen Österreich und schon lange vor Corona weltweit bei diversen Impfkampagnen im Einsatz.

Bachmann war auch in Nigeria, als dort am 2. März die ersten Impfdosen eintrafen. Vier Millionen Dosen, für eine Bevölkerung von über 200 Millionen Menschen. Kurze Zeit später folgte der Exportstopp Indiens und Nigeria saß erneut auf dem Trockenen. Und so wie Nigeria geht es derzeit vielen Ländern des sogenannten globalen Südens. Während sich die reichen Länder des globalen Nordens Impfstoff en masse sicherten, sind in Kenia, Mosambik oder Vietnam noch nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung geimpft. Laut der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) wird es noch bis 2023 dauern, bis die afrikanische Bevölkerung durchgeimpft ist. Gleichzeitig verzeichnet der Kontinent Anfang Juli einen Höchststand an Neuinfektionen.

Das ist nicht nur moralisch bedenklich, sondern wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die reichen Länder nach hinten losgehen, warnt Bachmann. „Eine Pandemie ist nur besiegt, wenn sie weltweit besiegt ist“. Bleiben ganze Weltregionen über Jahre ohne Impfstoff und medizinische Ausrüstung, erhöht das das Risiko für neue Mutanten – welche mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Weg in den globalen Norden finden.

Marcus Bachmann, humanitärer Berater für Ärzte ohne Grenzen Österreich.
Foto: Herwig Prammer/Ärzte ohne Grenzen Österreich

„Katastrophales moralisches Versagen“

Eigentlich begann alles ganz anders. Huldigungen der globalen Solidarität, die bei der Erforschung und Entwicklung eines COVID-19-Vakzins zu beobachten war. Mit dem Impfstoff entstehe „ein einzigartiges globales öffentliches Gut des 21. Jahrhunderts“ und die EU „verpflichtet“ sich, dies für alle zugänglich und erschwinglich zu machen“, hieß es in einer Erklärung der EU-Kommission.

Das war im Mai 2020. Die Welt im Juli 2021 ist eine andere. Laut einer Studie der britischen Fachzeitschrift The Lancet vom Februar, sicherten sich die reichen Länder mittels Exklusivverträgen Zugang zu 70 Prozent des verfügbaren Impfstoffs, obwohl sie nur 16 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Laut Amnesty International reichen diese Mengen, um die Bevölkerung in den betreffenden Ländern bis Ende 2021 drei Mal zu impfen.

In einem Beitrag im britischen Guardian kritisierte die UNAIDS-Direktorin Winnie Byanyima zu Jahresbeginn angesichts der Ungleichverteilung des Vakzins eine globale „Impfstoff-Apartheid“. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sprach zur selben Zeit von einem „katastrophalen moralischen Versagen, und der Preis dafür wird mit Leben in den ärmsten Nationen bezahlt“. Laut einer Studie US-amerikanischer und italienischer Forscher könnte eine gerechte Verteilung der Impfdosen die Todesfälle weltweit halbieren .

Soziologe Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.
Foto: Frank Röth/Frankfurter Allgemeine Zeitung

Fortschreiben imperialer Strukturen

Für den Soziologen Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, kommt diese Entwicklung wenig überraschend. „Seit Hunderten von Jahren ist es so, dass der kolonialisierende, imperiale Westen sich privilegierte Lebenschancen aneignet“, kritisiert Lessenich. Westliche Industriegesellschaften sicherten seit Jahrhunderten relative Privilegien für ihre eigene Bevölkerung – „und das machen sie heute wieder“.

Angestoßen von Indien und Südafrika fordern mittlerweile mehr als 100 Staaten, die Außerkraftsetzung des sogenannten TRIPS-Abkommens der Welthandelsorganisation (WTO), um den Patentschutz für die Vakzinherstellung vorübergehend auszusetzen. Der sogenannte TRIPS-Waiver würde es ärmeren Staaten erlauben, kostengünstigere Generika zu produzieren – und so täglich Menschenleben zu retten. Mittlerweile unterstützt auch die USA die Initiative, während die EU, inklusive Österreich, großteils blockiert. Allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt sich hinter die Pharmaindustrie und betonte unlängst, der „Schutz von geistigem Eigentum ist Quelle von Innovation und muss es auch in Zukunft bleiben“.

Lehren aus der HIV/AIDS-Epidemie?

Auch Ärzte ohne Grenzen unterstützte die TRIPS-Initiative von Anfang an. Laut Bachmann ist das Thema noch lange nicht vom Tisch und wird derzeit innerhalb der WTO weiterverhandelt. Täglich sterben rund 10.000 Menschen infolge einer COVID-Infektion, schätzt Bachmann. Mit der Aussetzung der Patente könnten innerhalb weniger Monate mehrere Milliarden Dosen produziert werden – „wir können uns nicht leisten, das nicht zu tun“. Die Folgen wären eine drastische Verschärfung bestehender Ungleichheiten und sind bereits jetzt verheerend: laut Weltbank drohen Laufe des Jahres bis zu 150 Millionen Menschen durch Erwerbsverlust in extreme Armut ab zu rutschen.

In einer Aussendung brüstet sich das Außenministerium damit, insgesamt 2,4 Millionen Euro für die Unterstützung des globalen Südens bereit gestellt zu haben. Laut Bachmann ist das nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein und pro Kopf deutlich weniger als der Beitrag anderer Staaten.

Die Ungleichverteilung des Corona-Vakzins und der Patentstreit hat einen historischen Vorläufer. Rund zwölf Millionen AfrikanerInnen starben zwischen 1997 und 2007, weil sie sich HIV/AIDS-Präparate nicht leisten konnten. Auch damals zählten Profitinteressen multinationaler Unternehmen mehr als das Leben von Millionen von Menschen und westliche Regierungen fungierten als Reproduktionsgehilfen dieser Interessen. Erst nach massivem öffentlichem Druck lenkten die Pharmakonzerne ein. Seither sind HIV/AIDS-Medikamente deutlich kostengünstiger verfügbar.

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