Schule kann auch anders funktionieren. Josef Reichmayr, Direktor der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau in Wien, über Möglichkeiten, erstarrte Strukturen aufzubrechen.
KOMPETENZ: Wie stehen Sie zum aktuellen Bildungsvolksbegehren?
Reichmayr: Ich halte das Volksbegehren für eine spannende Initiative, um ein im Grunde seit dem Jahr 1962 in Beton gegossenes System in unserem Land zu dynamisieren. Das Volksbegehren hat bessere Voraussetzungen als viele Initiativen, die sich in der Vergangenheit bemüht haben, gegen verfestigte Strukturen im Bildungsbereich anzukämpfen. Zum Inhaltlichen: Die aktuelle Parole nach einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen wurde durch eine reizwortarme, aber inhaltlich wesentlich weiter reichende Formulierung ersetzt, die ich aber voll in Ordnung finde. Es wird ein Bildungssystem gefordert, in dem Kinder erst am Ende der Pflichtschulzeit auseinandersortiert werden und dann erst unterschiedliche Wege gehen. Und es wurde dem Text des Volksbegehrens auch noch der Begriff „inklusiv“ beigefügt – ein inklusives System, das niemanden vorzeitig ausschließt. Dieses Prinzip versuchen wir auch an unserer Schule vorzuleben. Ich unterstütze das Volksbegehren als Staatsbürger, weil ich es als Beitrag zu einer höchst überfälligen Entwicklung des Schulsystems in eine gegenwartstaugliche und zukunftsorientierte Richtung betrachte.
KOMPETENZ: Was funktioniert an der ILB anders?
Reichmayr: Das betrifft mehrere Ebenen. Der Generalaspekt ist, dass kein Kind – aus welchen Gründen auch immer – ausgeschlossen bleibt, sondern ins System integriert wird. Wir versuchen, das Recht auf Integration vorzuleben und zu verwirklichen. Wir freuen uns, solche Kinder aufzunehmen, und sehen es als besondere Herausforderung. Wir fördern das gemeinsame, heterogene Lernen, indem wir die Jahrgangsklassen aufgelöst haben, und vor knapp drei Jahren hat sich eine weitere Möglichkeit aufgetan. Auf Drängen des Elternvereinsobmanns haben wir einen Schulversuch gestartet und unseren Ansatz auch in die Mittelstufe hinein – also zwischen 10 und 15 – ausgedehnt. Es geht ja darum, die große Schnittstelle nach vier Jahren aufzulösen, und wir sollten nicht von der gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen reden, sondern von der gemeinsamen Schule der 6- bis 15-Jährigen. Das funktioniert hier bei uns gemeinsam mit dem Integrationsansatz und dem Prinzip der Altersdurchmischung in allen Klassen.
KOMPETENZ: Wie erklären Sie den nach wie vor starken Widerstand, obwohl sehr viel für Veränderungen in diese Richtung spricht?
Reichmayr: Die zögerliche Politik der großen Parteien spiegelt eine weitverbreitete Skepsis vor Veränderungen in der Gesellschaft wider. Die neue Schule wäre ein Paradigmenwechsel – man müsste dann aus einer vorhandenen Gruppe von SchülerInnen das Beste herausholen. Und man müsste sich von einem Denken lösen, das darauf aufbaut, dass eine Gruppe etwas Besonderes darstellt, wo es nicht vorgesehen ist, dass sich ein System an besondere Bedürfnisse von Schülern anpasst. Jetzt müssen sich die Kinder anpassen, und die es nicht schaffen, „fluten zurück“ in die Hauptschulen, die sie nehmen müssen, und alle schauen zu bei dieser fatalen Entwicklung. Gerade im städtischen Bereich ist das „besondere“ Image der Gymnasien noch stark ausgeprägt. Das positiv aufzubrechen heißt mehr, als einen politischen Kompromiss zwischen ÖVP und SPÖ herzustellen – es muss in den Köpfen der Menschen diese Veränderung stattfinden.
KOMPETENZ: Sehen Sie Anzeichen, dass Modelle wie das der ILB Nachahmung finden?
Reichmayr: Natürlich dachten wir 1998, dass sich das herumspricht, was wir hier machen. Man muss auch sehen, dass es in vielen Schulen im Kleinen Ansätze in diese Richtung gibt. Wir hatten das Glück, das als ganze Schule versuchen zu können. So etwas funktioniert auch nicht auf Knopfdruck oder per Verordnung. Es geht darum, für solche Projekte förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen und dann immer mehr Kräfte zu bündeln, die mitmachen, und zwar im ganzen Land. So ist es ja absolut spannend, mit verschiedenen LehrerInnentypen, Volksschul-, Hauptschul-, Sonderschul- und GymnasiallehrerInnen – in einer gemeinsamen Struktur zu arbeiten. Das ist für alle Beteiligten sehr bereichernd.
KOMPETENZ: Dann wäre es also die Lösung, die Hauptschulen einfach abzuschaffen?
Reichmayr: Ich will nicht abschaffen oder zusperren sagen, sondern im positiven Sinn auflösen und ein völlig neues System schaffen – es geht um das Verlassen alter Trampelpfade. Es kann ja für ein Gymnasium durchaus spannend sein, einen Elementarbereich dazuzuerhalten, sich nach „unten“ zu öffnen. Ich sehe da unseren Ansatz schon als einen politischen Auftrag. Die Nagelprobe ist ja, ob Kinder mit schlechteren Grundvoraussetzungen, etwa sprachlich, körperlich oder sozial, in solchen Systemen mehr profitieren als im derzeitigen Regelsystem. Da wäre es reizvoll, einmal eine professionell angelegte wissenschaftliche Studie durchzuführen – ich hab’ das auch schon bei PolitikerInnen angeregt.
Das Interview führten Martin Panholzer und Barbara Lavaud.