Mehr Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch weniger soziale Probleme, sagt der britische Mediziner und Sozialforscher Richard Wilkinson. Er war Anfang November 2010 Gastredner beim GPA-djp-Bundesforum.
Was verbindet Japan, Norwegen, Finnland und Schweden? In diesen Ländern gibt es geringe Einkommensunterschiede. Die 20 wohlhabendsten Prozent der Bevölkerung sind nur um 3,4- bis 4-mal reicher als das unterste Fünftel. In Staaten wie den USA, Portugal oder Großbritannien sieht die Situation gänzlich anders aus. Hier sind die Reichsten um sieben- bis achtmal begüterter als die untersten 20 Prozent. Österreich bewegt sich im Mittelfeld: hier sind die oberen 20 Prozent 4,8-mal reicher als das untere Fünftel.
In seinem Buch „Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ hat Wilkinson gemeinsam mit Koautorin Kate Pickett aufgezeigt, wie positiv sich eine gerechtere Verteilung der zur Verfügung stehenden Finanzmittel auf eine Gesellschaft auswirkt. Und dass Wirtschaftswachstum nicht das Allheilmittel ist. Jedenfalls nicht ad infinitum. „Ja, am Anfang profitieren alle vom Wachstum. Die Lebenserwartung steigt, die allgemeine Gesundheit ist besser. Doch heute sind wir in den reichen Staaten an einem Punkt angelangt, wo noch mehr Wachstum nichts mehr bringt.“
Soziale Problemfelder
Japan und Schweden verbindet nicht nur eine relative ökonomische Gleichheit. Viele Probleme wie Drogenabhängigkeit, Kindersterblichkeit, Übergewicht, psychische Erkrankungen, Mord- und Gefängnisraten oder Teenager-Schwangerschaften sind in diesen „gleicheren Staaten“ seltener anzutreffen als in ebenfalls reichen, aber „ungleicheren Ländern“. „Und davon profitieren alle: sowohl die Armen als auch die Reichen.“
Wie aber ist diese höhere ökonomische Gleichheit zu erreichen? Wilkinson sagt, hier gibt es kein Patentrezept. Und es sei auch nicht der Weg wichtig, sondern das Ziel. In Japan gibt es grundsätzlich geringere Einkommensunterschiede. In Schweden trägt das Steuersystem massiv zur Umverteilung bei. Ein Best-Practice-Beispiel streicht Wilkinson dann doch heraus: „Gute Erfahrungen hat man in Unternehmen gemacht, die von den Mitarbeitern übernommen wurden.“
Aktive Gewerkschaften
Klar ist aber, dass Länder, in denen eine starke Gewerkschaftsbewegung aktiv ist, grundsätzlich zu den Staaten zählen, in denen es geringere Einkommensunterschiede gibt. Das rührt einerseits daher, dass sich die Gewerkschaften für stetige Lohnerhöhungen einsetzen. „Das hat aber auch damit zu tun, dass sie in den Unternehmen darauf schauen, dass die Topmanager mit ihren Gehältern nicht dem Rest gänzlich davongaloppieren.“
Konkurrenz und Vertrauen
Wilkinsons Studien ergaben auch, dass in jenen Staaten, in denen es höhere ökonomische Unterschiede gibt, auch mehr Überstunden geleistet werden. Der Grund? Mehr Geld, das zur Verfügung steht, heißt auch: mehr kaufen zu können. Konsumgüter tragen zum sozialen Status bei. Je höher wiederum dieser ist, desto besser fühlt man sich – schließlich kann man den eigenen Erfolg dann auch durch die Augen der anderen sehen. Dies mag zwar das Selbstwert- und vielleicht auch das Glücksgefühl des Einzelnen heben, sagt der britische Forscher. Gesamtgesellschaftlich wirkt sich dieser Konkurrenzkampf aber negativ aus. Man vertraut in ungleicheren Staaten den anderen Menschen beispielsweise in viel geringerem Ausmaß als in gleicheren Staaten. Die Unterschiede bewegen sich hier zwischen 15 und 65 Prozent. Vertrauen, das heißt auch: wie sicher fühle ich mich nachts auf der Straße, zum Beispiel allein als Frau?
Lebensqualität
Es sind genau solche Faktoren, die zur individuellen Lebensqualität beitragen. Und sozialer Status hin oder her: Wer permanent Überstunden machen muss, um sich all das zu leisten, was er meint zu brauchen, um seinen sozialen Status zu halten oder sogar zu heben, setzt sich auch massiv Stress aus. Dieser tut wiederum der Gesundheit nicht gut, so Wilkinson. Er betont: nur gemeinsam könne die Gesellschaft zu einer besseren Lebensqualität kommen. Der Wissenschafter gibt hier auch Beispiele aus der Medizin: Eine Herzoperation helfe dem Einzelnen, mache aber die Gesamtbevölkerung nicht gesünder. Eine Entzugsklinik helfe Drogenkranken, bekämpfe aber nicht die Drogensucht an sich. Prävention sei wichtig. Die beste Prävention sei aber eine generell hohe Lebenszufriedenheit. Und die sei eben in Ländern mit höherer Gleichheit einfach höher.
Gemeinwohl statt Wachstum
Fazit: Die reichen Gesellschaften sind am Ende des Nutzens von Wachstum angelangt. Nun müssen sie schauen, dass alle Bürger gute soziale Beziehungen haben. Das kommt wiederum allen zugute: Je gleicher die Einkommen, desto höher ist auch das Engagement für das Gemeinwohl, erzählt der Forscher. Und: In gleicheren Gesellschaften ist auch der Zugang zu Bildung für alle deutlich besser – und damit verbunden die Chance zu sozialem Aufstieg.
Buchtipp
Richard Wilkinson und Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Verlag Haffmans & Tolkemitt, € 19,90.