Das österreichische Bildungssystem verstärkt bestehende Ungleichheiten. Die Gesamtschule würde mehr Chancengleichheit bringen.
Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht. Sie steht jedem Menschen in gleichem Maße zu – unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft, von seinem Geburtsort, vom Einkommen seiner Eltern und unabhängig vom Geschlecht und von allen anderen äußeren Eigenschaften. Hinter der Idee von der Bildung als Menschenrecht, die auch in der österreichischen Verfassung verankert ist, steht der Gedanke der Chancengleichheit. Alle Kinder und Jugendlichen sollen die Möglichkeit haben, sich zu entfalten, sich ihren Fähigkeiten und ihren Interessen entsprechend zu entwickeln und einen Beruf zu wählen, der ihnen Freude macht und zu ihnen passt.
Vererbte Chancen So weit die Theorie. Die Realität in Österreich sieht allerdings anders aus: Das österreichische Bildungssystem schafft nicht mehr soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit, sondern trägt aktiv zur Erhaltung vorhandener Ungleichheiten bei. Zukunft ist in Österreich stark von Herkunft abhängig, weil die Ressource Bildung selbst sehr ungleich verteilt ist. Von der frühesten Entscheidung für oder gegen eine Schule bis zur beruflichen Karriere wird jeder einzelne Schritt, den wir machen, zumindest teilweise von unserem sozialen Hintergrund bestimmt.
Branko Milanovic, Ökonom bei der Weltbank, hat festgestellt, dass nur zwei Faktoren zu 80 Prozent über die Höhe des Einkommens entscheiden – der Geburtsort der Eltern und deren Einkommen. Zukunftschancen werden den Kindern also weltweit in die Wiege gelegt und sind äußerst ungerecht verteilt. Die zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich verschärft diese Situation und raubt immer mehr jungen Menschen ihre Zukunft.
Die soziale Selektion beginnt bei der Auswahl des Kindergartens und der Volksschule. Spätestens im 10. Lebensjahr des Kindes, wenn die Entscheidung zwischen Gymnasium und Hauptschule bzw. Neuer Mittelschule ansteht, fällt dann die erste unumkehrbare Richtungsentscheidung. Obwohl der Lehrplan in beiden Schulen derselbe ist, unterscheidet sich das Bildungsniveau der Jugendlichen nach dem Abschluss sehr. Damit ist in den allermeisten Fällen auch gleich die Entscheidung über eine weiterführende Ausbildung vorweggenommen. Die Wahrscheinlichkeit, als ehemalige Hauptschülerin später eine Universität zu besuchen, liegt bei 25 Prozent. Ein Absolvent/eine Absolventin eines Unterstufen-Gymnasiums wird mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit AkademikerIn.
Soziale Selektion
Die selektive Wirkung des österreichischen Bildungssystems lässt sich auch statistisch nachweisen. Laut dem „Österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung“ kommt fast die Hälfte der HauptschülerInnen aus Haushalten mit weniger als 1.500 Euro Einkommen, in der AHS-Unterstufe ist das nur ein Fünftel. Wenn die Eltern selbst studiert haben, gehen die Kinder zu 80 Prozent in eine AHS. Bei Eltern, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, sind es nur zehn Prozent. 77 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund wechseln nach der Volksschule in eine Hauptschule, bei österreichischen Kindern sind das nur 66 Prozent.
Fast ein Drittel der Jugendlichen der zweiten Generation besuchen nach Pflichtschulende keine weiterführende Ausbildung. Das sind doppelt so viele wie bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Die frühe Auslese bestimmt das weitere Leben der Kinder. Begabung und Interessen der Kinder spielen dagegen eine vergleichsweise kleine Rolle.
Gesellschaftliche Konsequenzen
Eine der wichtigsten Aufgaben von Politik wäre es, diese durch die Herkunft bedingte Aussichtslosigkeit so gut wie möglich auszugleichen. Das tut sie weltweit – und auch in Österreich – viel zu wenig. Und das liegt nicht daran, dass die Reformen nicht auf der Hand liegen würden. Länder wie Finnland oder Kanada zeigen vor, wie Schule auch funktionieren kann. Die ungleiche (und auch ungerechte!) Verteilung von Bildungschancen in Österreich ist zudem gut belegt. Trotzdem wird diese Ungerechtigkeit immer wieder bestritten. Ungleiche Chancen werden gerechtfertigt, indem sie individualisiert werden. Die Forderung nach mehr Chancengleichheit wird als Gleichmacherei bezeichnet.
Natürlich würden unterschiedliche „Leistungen“ zu besseren oder schlechteren Chancen und unterschiedlichen Einkommen sowie Lebens- und Karrieremöglichkeiten führen, aber das sei auch gerecht. Vollkommen übersehen wird dabei jedoch, dass diese sogenannten „Leistungen“, die über Bildungserfolge und Bildungswege entscheiden, von den sozialen Faktoren nicht zu trennen sind.
In Anbetracht der unterschiedlichen Chancen ist es nicht wirklich überraschend, dass Jugendliche und junge Erwachsene mit höherer Bildung ihre eigene Zukunft deutlich rosiger sehen als junge Menschen mit niedrigerem Bildungsstand. Es ist ebenso wenig verwunderlich, dass in einer Gesellschaft, die es entgegen anderslautender Beteuerungen nicht schafft, für echte Chancengleichheit zu sorgen, junge Menschen kaum mehr an die gestaltende Kraft der Politik glauben. Kein Wunder, dass Jugendliche aus benachteiligten Familien eher an einen Aufstieg über die Teilnahme an einer Casting-Show als an ein Universitätsstudium glauben.
Die Folgen sind Politikverdrossenheit und eine niedrige Wahlbeteiligung bei jungen WählerInnen – Entwicklungen, die letztlich der Gesamtgesellschaft schaden. Das Ziel einer gerechteren Verteilung von Chancen und Möglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen ist daher nicht Selbstzweck, sondern dient zur Absicherung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Zukunft. Gute Bildung und Qualifi zierung stellen zentrale Erfolgsfaktoren für unsere Gesellschaft dar. Dies sollte nicht nur von verschiedenen Seiten immer wieder betont werden, sondern sich letztlich auch realpolitisch im finanziellen Rahmen und in den Konzepten der Regierung widerspiegeln.
Was zu tun ist?
Die GPA-djp setzt sich dafür ein, dass das gesamte Bildungssystem durchlässiger gestaltet wird. Das muss beim Eintritt ins Bildungssystem beginnen, bei dem die öffentliche Hand ein quantitativ und qualitativ gut ausgebautes Angebot an Elementarbildung und Kinderbetreuungseinrichtungen bereitstellen muss. Bildungssackgassen wie die Hauptschule müssen endlich der Vergangenheit angehören. Dafür ist die fl ächendeckende Einführung einer gemeinsamen schulischen Grundausbildung in den ersten neun Jahren für alle SchülerInnen mit individuellem Unterricht und Fördermaßnahmen bei gleichzeitiger Abschaffung der AHS-Unterstufe unumgänglich. Qualitativ hochwertige Ganztagsschulen, wo Lernen, Freizeit und Üben in Form von Lernhilfe und Förderangeboten über den ganzen Tag verteilt stattfinden, müssen ausgebaut und die Infrastruktur in den Schulen verbessert werden.
Insbesondere im Pflichtschulbereich muss die Schulsozialarbeit sowie der schulpsychologische Dienst ausgebaut werden. Mehr individuelle Förderung Pädagogisch fragwürdige Klassenwiederholungen, die Staat und Familien Kosten in der Höhe von mehreren 100 Millionen Euro jährlich verursachen, müssen abgeschafft werden. Stattdessen sind individuelle Förderkonzepte im Unterricht allgemein auszubauen. Eine wichtige Voraussetzung für qualitätsvollen, individualisierten Unterricht ist auch die Senkung der KlassenschülerInnenhöchstzahl auf maximal 15 SchülerInnen pro Klasse.
Besonders schlechte Voraussetzungen im derzeitigen österreichischen Schulsystem fi nden Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache vor. Hier bedarf es besonderer Anstrengungen, da diese Bevölkerungsgruppe mehreren sozialen Risikofaktoren (sprachliche und soziale Defi zite, Diskriminierung etc.) ausgesetzt ist. Als wesentliche Maßnahmen sind der Einsatz von IntegrationslehrerInnen und die gezielte Rekrutierung von PädagogInnen mit Migrationshintergrund zu forcieren. Pädagogische Leitlinie des Schulsystems sollte es sein, alle Kinder bei der Entfaltung ihrer individuellen Potenziale bestmöglich zu unterstützen, anstatt durch Defizitorientierung die Perspektiven von Kindern zunehmend einzuschränken. Neben politischer Bildung sollte der Unterricht auch grundlegende Informationen über das österreichische Sozial- und Arbeitsrecht enthalten.