Der Soziologe Oliver Nachtwey beschreibt in seinem Buch, wie eine Gesellschaft heranwächst, die trotz guter Ausbildung nicht mit sozialem Aufstieg rechnen kann.
Oliver Nachtweys im Vorjahr erschienenes Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ ist Teil einer Reihe von Publikationen, die die Aufarbeitung der großen Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2007 zum Thema haben. Das Besondere an Nachtweys Überlegungen macht aus, dass er nicht nur bei der Analyse ökonomischer und soziologischer Prozesse verbleibt, sondern den Auswirkungen auf politische Prozesse und neue Protestformen breiten Raum widmet („Das Aufbegehren“).
Die Finanz- und Wirtschaftskrise stellt für den Autor eine Zäsur in der Entwicklung der westlichen Industriestaaten dar. War es bis über die Jahrtausendwende hinweg noch klar, dass trotz wachsender Ungleichheit praktisch alle Schichten von der wirtschaftlichen Entwicklung profitierten und somit dem System eine gewisse Stabilität zusicherte, so hat sich dies in den vergangenen Jahren fundamental geändert. Für viele Menschen geht es seit geraumer Zeit ökonomisch nicht aufwärts, sondern abwärts. Nachtwey verwendet dafür den Begriff „Rolltreppe nach unten“, der diesen kollektiven Prozess beschreiben soll. Erstmals wachse eine Generation heran, für die eine gute Ausbildung nicht automatisch eine Verbesserung der materiellen Situation bedeutet. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist für Nachtwey eine der Hauptursachen dieses Effekts. „Nicht im bloßen Anwachsen der sozialen Ungleichheit, sondern in den Erschütterungen der Arbeitsverhältnisse liegt die Hauptursache für den Übergang zur Abstiegsgesellschaft.“ (S. 137)
Selbst für Länder wie Deutschland, die oft als Beispiel für eine erfolgreiche Krisenbewältigung genannt werden, ortet er diesen Effekt. Obwohl Massenarbeitslosigkeit ausgeblieben ist, nimmt in Deutschland Armut im Zuge der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Privatisierung sozialer Vorsorge zu. So sieht er als Folge der arbeitsmarktpolitischen Reformen (Agenda 2010) die Herausbildung einer neuen „Unterklasse“ in Deutschland (siehe Faktencheck Hartz IV in diesem Heft).
Breiten Raum widmet Nachtwey der Erklärung der Ursachen der Krise und der Art der herrschenden Krisenbewältigung in Form der Dominanz der Austeritätspolitik im Interesse finanzkapitalistischer Akteure zulasten der ArbeitnehmerInnen. Hier unterscheidet sich der Autor nicht von anderen kritischen Auseinandersetzungen. Spannend ist vor allem sein Kapitel über völlig neue Formen des „Aufbegehrens“ gegen die sozialen Folgen der Krisenbewältigung. Nachtwey beschreibt neue linke Proteste, wie die spanischen Idignados, die griechische Syriza oder die Occupy-Bewegung. Er erklärt aber auch die Zunahme sozialdarwinistischer und xenophober Politik vor dem Hintergrund von Zukunfts- und Abstiegsangst. Neu ist, dass sich die Protestformen stark von den „traditionellen“ auch gewerkschaftlichen Protestformen des 20. Jahrhunderts unterscheiden.
Für alle politisch denkenden und agierenden Menschen, die erkennen, dass es auf absehbare Zeit keine Wiederaufnahme des alten Modells der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft geben wird, stellen Nachtweys Überlegungen wertvolle Anregungen dar, die sicher auch für die Entwicklung zeitgemäßer gewerkschaftlicher Strategien enorm brauchbar sind.