In beinah prophethischer Voraussicht hat der deutsche Autor Timur Vermes einen realitätsnahen Roman zum Themenkomplex Flucht und Migration geschrieben.
Einen atemberaubenden Titel hat Timur Vermes mit „Die Hungrigen und die Satten“ vorgelegt. Es geht um Menschen, die vor Krieg flüchten, und solche, die katastrophale wirtschaftliche Umstände im eigenen Land hinter sich lassen wollen. Und von einem besseren Leben in Europa träumen, das sich aber abgeriegelt hat. Der eigentliche Plot hingegen ist genauso unfassbar wie realitätsnah.
Denn während Europa andere Länder bezahlt, um Flüchtlinge und MigrantInnen möglichst fern zu halten, boomt im deutschen Privat-Fernsehen eine voyeuristische Reality-Show aus einem Flüchtlingslager südlich der Sahara. Bis sich ein Tross von zunächst 150.000 Flüchtlingen zu Fuß auf den Weg Richtung Europa begibt.
Der deutsche Autor Timur Vermes hat 2012 sein Debüt mit der bitter-bösen Hitler-Satire „Er ist wieder da“ gefeiert. Mit ähnlich beißender Ironie verhandelt er in seinem zweiten Roman ethische, journalistische und hochpolitische Fragen wie: Darf eine Live-Sendung für die Quote Flüchtlinge „verheizen“? Wie viel „Schrott“ wird allzu schnell von Online-Medien veröffentlicht („weil die Leute es ja eh nicht richtig lesen“)?
Und schließlich: Wie lange können PolitikerInnen Entwicklungen wie eine Riesenmenge geflohener Menschen ignorieren? Gilt hier tatsächlich die Maxime, „man muss das Höchstmaß an Unruhe verursachen, denn nur dann kann man als Retter auftreten“? Sollen die Landesgrenzen des Wohlstands, also Europas, wirklich mit allen Mitteln, notfalls durch Schießen, aufgerüstet werden – weil die Satten Angst haben vor den Hungrigen? Oder soll Letzteren stattdessen lange davor in den Herkunftsländern geholfen werden?
Was Timur Vermes hier vorgelegt hat, ist freilich Fiktion – aber mit hochbrisantem politischen Gehalt. Bemerkenswert ist, dass er Kritik übt an dem europäischen Deal mit der Türkei, die zahlreichen Flüchtlinge vor einem EU-Grenzübertritt festzuhalten. Dieser a priori umstrittene Pakt wurde keine zwei Jahre vor Erscheinen von „Die Hungrigen und die Satten“ abgeschlossen. Und ist bekanntlich vor wenigen Wochen geplatzt.
Selbstverständlich dürfen Phänomene wie politischer Populismus und Extremismus bei der Thematik nicht fehlen. Dass Rechtsextreme Politiker töten, die sich Migration oder Flucht und Integration mit konstruktiven Konzepten annehmen, ist inzwischen tragische Realität geworden.
Der Roman, bereits 2018 erschienen, wurde jüngst auch als Taschenbuch und in englischer Übersetzung verlegt. Möglicherweise erreicht er nicht das (Unterhaltungs-)Niveau von „Er ist wieder da“. Dazu ist die Thematik vergleichsweise komplexer. Hinzu kommen die ständigen – und notwendigen – Perspektivenwechsel zwischen den Reality-TV-Show-MacherInnen, der Politik und den geflohenen Menschen. Der Text wirkt nach einem Drittel etwas langatmig, legt aber im letzten Drittel wieder deutlich an Tempo zu. Gut möglich, dass die mehr als 500 Seiten auch mit Blick darauf geschrieben wurden, dass sie so wie Vermes‘ Debütroman verfilmt werden.
Allen ans Herz zu legen, die sich mit Migration im politischen, populistischen und journalistischen Kontext auf nicht ganz bierernste und dennoch tiefsinnige Weise auseinandersetzen wollen.
Timur Vermes
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2018
512 Seiten
ISBN 978-3-8479-0660-5, Euro
22,70
oder als Taschenbuch im Bastei Lübbe Verlag
Köln 2019
ISBN 978-3-404-17886-5
Euro 13,30.