Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs legt in ihrem nun im Mandelbaum Verlag erschienenen Buch „Krisendemokratie“ dar, dass demokratiepolitisch in einer nächsten ähnlichen Situation wie der aktuellen Pandemie seitens der Politik überlegter gehandelt werden muss.
Im Gespräch mit der KOMPETENZ schlägt sie etwa einen begleitenden Unterausschuss des Parlaments und eine Zusatzausbildung für Juristen vor, die vermittelt, wie man Gesetze verfasst.
KOMPETENZ: Sie kommen zu dem Schluss, dass das Parlament vor allem zu Beginn der Coronakrise zu wenig seiner Kontrollfunktion nachkommen konnte. Was hätte anders gemacht werden könnte?
Tamara Ehs: Wir haben gesehen, dass sehr schnell reagiert werden musste. Daher gab es Sammelgesetze, es wurde keine Begutachtung durchgeführt. Das kann man in den ersten Tagen einer solchen Notsituation argumentieren. Was aber verabsäumt wurde, ist die sofortige Einrichtung eines begleitenden Kontrollausschusses, etwa als Unterausschuss des Gesundheits- oder Sozialausschusses. Hier hätten die Parlamentarier Informationen und Unterlagen dazu einfordern können, was die Grundlagen für die eingebrachten Gesetze sind. Die Oppositionsparteien haben einen solchen Kontrollausschuss aber gar nicht eingefordert. Sie reihten sich in den Schulterschluss des Team Österreich ein. Sie wurden für diese konstruktive Zusammenarbeit von der Regierung auch gelobt. Da müssten bei einer Oppositionsfraktion schon die Alarmglocken läuten.
„Was aber verabsäumt wurde, ist die sofortige Einrichtung eines begleitenden Kontrollausschusses, etwa als Unterausschuss des Gesundheits- oder Sozialausschusses.“
Tamara Ehs
Sie haben zu Zwei-Drittel-Materien zugestimmt, ohne im Gegenzug auch nur irgendetwas dafür zu bekommen. Dabei haben sie auch gute Vorschläge gemacht. Die SPÖ wollte zum Beispiel Unterstützungen für Unternehmen an Arbeitsplatzgarantien koppeln. Oder beim Härtefallfonds hat die Opposition gesagt, dieser sollte nicht bei der Wirtschaftskammer angesiedelt sein, sondern beim Finanzamt. Aber all das wurde nicht angenommen.
Erst einen Monat später, im April, begann sich bei der Opposition dann Unmut zu regen und die Stimmung änderte sich. In der österreichischen Verfassung gibt es keinen Ausnahmezustand, wo die Regierung oder der Präsident alleine entscheiden können. Die Verfassung verpflichtet auch in der Krise, den normalen Gesetzwerdungsprozess einzuhalten. Den kann man beschleunigen, aber da braucht man die Zustimmung der Opposition. Und da wurde das Heft aus der Hand gegeben. Man muss schnell reagieren, aber man kann auch begleitend kontrollieren, und das hat das Parlament nicht getan.
KOMPETENZ: Wie könnte man für eine nächste solche Krisensituation hier vorbeugen?
Tamara Ehs: Wir sehen jetzt schon, was der Verfassungsgerichtshof (VfGH) inzwischen alles vorgegeben hat, was besser zu machen ist. Einerseits muss in den Ministerien die legistische Ausarbeitung von Gesetzen besser funktionieren. Da hat nun auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober angekündigt, dass es neue Strukturen geben wird.
Was noch zu tun ist: wenn man im Herbst eine zweite Infektionswelle erwartet, muss man schon jetzt die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen. Jetzt hat man auch die Zeit, Begutachtungsfristen zu machen und dabei auch die Zivilgesellschaft zu hören. Man kann sich die März-Gesetze anschauen und nachbessern. Und man muss sich überlegen, was man mit allen Regelungen macht, die am 31. Dezember auslaufen. Wenn wir nicht bald eine Impfung haben, werden wir mit der Pandemie bis ins Jahr 2021 hinein konfrontiert sein. Statt Gesetze einfach in Gänze zu verlängern, könnte man sich ansehen, was ist nicht mehr nötig, was muss nachgebessert werden und dazu eine ordentliche Begutachtung machen und die Opposition einbeziehen.
„Man könnte sich auch anschauen, ob das Epidemiegesetz für eine zweite Welle tragfähig wäre.“
Tamara Ehs
KOMPETENZ: Welche gesetzliche Regelungen aus den Märztagen müssten aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Tamara Ehs: Zum Beispiel Regelungen, in denen es um Ausgangsbeschränkungen und Abstandsregeln im öffentlichen Raum ging. Oder die Regelungen, wieviele Menschen gleichzeitig ein Geschäft betreten dürfen. Der VfGH hat gesagt, es kann schon sein, dass das alles sinnvoll ist, aber das muss in den Gesetzesmaterien auch ausreichend begründet werden. Diese Begründungen könnte man nun nachliefern oder für ein neues Gesetz adaptieren.
Man könnte sich auch anschauen, ob das Epidemiegesetz für eine zweite Welle tragfähig wäre. Und wenn man wieder Ausgangsbeschränkungen verhängen möchte, müsste man das anders machen als im März, also nicht bloß per Verordnung. Da gibt es viel Druck auf den Gesundheitsminister, wobei man auch sagen muss: das Parlament hat ihn hier alleine gelassen.
KOMPETENZ: Ein Schwachpunkt scheint hier auch die Ausführung von Gesetzen zu sein, das hat nun eben auch Gesundheitsminister Rudi Anschober eingeräumt. Zeigt die Coronakrise hier aber nicht nur grundsätzliche Probleme verstärkt auf?
Tamara Ehs: Das wissen wir seit Jahren. Der VfGH bemängelt immer wieder, dass manche Gesetze gar nicht lesbar sind. Da kommt es wirklich auf Punkt und Beistrich an. Ein falsch gesetztes Komma kann zu einer anderen Bedeutung führen. Man müsste mehr Rechtsabsolventen in den Ministerien anstellen und sowohl innerhalb als auch über die Ministerien hinweg besser zusammenarbeiten sowie den Verfassungsdienst des Kanzleramts und des Parlaments einbinden. Selbst wenn es schnell gehen muss, müssen die Abläufe so eingespielt sein, dass man nichts ins Straucheln kommt.
Und man muss sich überlegen, ob man nicht in Zukunft für die Legistik eine umfassende Ausbildung schafft. Wenn man Rechtswissenschaften studiert, lernt man nicht, wie man ein Gesetz schreibt. Die Niederlande haben zum Beispiel eine eigene Gesetzgebungsakademie. In Österreich könnte man bei der Verwaltungsakademie so ein Aufbaustudium einrichten.
KOMPETENZ: Wie ist hier die Aussage von Kanzler Sebastian Kurz über „legistische Spitzfindigkeiten“ einzuordnen?
Tamara Ehs: Legistische Spitzfindigkeit ist etwas Positives und ist einzufordern. Sie ist für jeden Bürger und jeder Bürgerin die Voraussetzung für Demokratie. Denn was wäre das Gegenteil? Juristischer Schlendrian? Da sind wir bei der Willkür. Man muss genau wissen, in welchem Rechtsrahmen bewege ich mich, was darf ich und was steht unter Strafe.
KOMPETENZ: Es war auch vor allem der Kanzler, der in den ersten Wochen mit seiner Rhetorik den Hebel der Angst bediente. Inwiefern schadet so eine Art der Kommunikation der Demokratie?
Tamara Ehs: Der Gesetzgeber muss darlegen, auf welcher Grundlage er Maßnahmen setzt. Und Angst zu verbreiten, ist keine Grundlage. Man muss klar kommunizieren, warum der Gang zu Arbeit erlaubt ist, der Besuch der Nachbarin aber nicht. Deshalb hat nun der VfGH auch gesagt, diese Regelungen sind nicht verfassungskonform – weil sie eben nicht ausreichend begründet wurden. Es war allen klar, dass es sich um ein Virus handelt, wo man anfangs nicht wusste, wie ansteckend es ist. Da muss die Regierung dann auch klar kommunizieren: Das ist eine gesetzliche Regelung und das nur eine Empfehlung. Wenn man sieht, dass die Empfehlungen nicht funktionieren, kann man immer noch neue Gesetze beschließen, in denen man sich auf Virologen bezieht. Ich kann aber keine „fake laws“ kommunizieren. Es steht einer Regierung in einer Demokratie nicht zu, Desinformation über die geltende Rechtslage zu verbreiten.
„Man muss klar kommunizieren, warum der Gang zu Arbeit erlaubt ist, der Besuch der Nachbarin aber nicht. Deshalb hat nun der VfGH auch gesagt, diese Regelungen sind nicht verfassungskonform – weil sie eben nicht ausreichend begründet wurden.“
Tamara Ehs
KOMPETENZ: Was versteht man unter einem „fake law“?
Tamara Ehs: In den ersten Wochen seit Ausbruch der Pandemie wurden die Menschen vor allem in den ständigen Pressekonferenzen und über die „Schau auf dich, schau auf mich“-Kampagne informiert, denn die wenigsten von uns sind selbst rechtskundig. Und dann höre ich, ich darf einkaufen und in die Arbeit gehen, ich darf aber nicht meine Großmutter besuchen und ich erhielt den Eindruck, das würde unter Strafe stehen. Es stand aber nicht unter Strafe, die Großmutter zu besuchen oder mich im öffentlichen Raum auf eine Parkbank zu setzen. „Fake law“ ist also, wenn man ein sozial erwünschtes Verhalten als Gesetz darstellt. Diese Gesetze gibt es nicht, und Gesetze, die es nicht gibt, sind „fake laws“.
KOMPETENZ: Das Abwägen zwischen Freiheitsrechten und Pandemiebekämpfung führte in Österreich in den ersten Wochen ab Mitte März auch zu einem Versammlungsverbot. Sie kritisieren, dass damit das Demonstrationsrecht eingeschränkt wurde. Da wusste man aber noch nicht, dass die Ansteckungsmöglichkeit im Freien nicht sehr groß ist. Hat die Regierung hier nicht gutmeinend im Sinn der Eindämmung von Infektionen gehandelt?
Tamara Ehs: Wir haben ein Bild von Demonstrationen, dass dabei tausende Menschen dicht an dicht nebeneinander auf einem Platz stehen oder über die Ringstraße gehen. Es ist klar, dass es hier, wenn es um Gesundheit und Sicherheit geht, Einschränkungen geben darf. Der Staat hat aber auch die Verpflichtung, das Demonstrationsrecht zu gewährleisten. Polizei und Innenministerium müssten den Menschen helfen, ihr Versammlungsrechts Corona-konform wahrzunehmen. In Deutschland und Israel ist das zum Beispiel auch passiert. Die Polizei gab vor, eine Kundgebung mit Abstand einzuhalten, dazu zeichnete man am Boden mit Kreide Markierungen. Eine Sitzdemonstration ist möglich oder eine stille Demonstration, bei der Plakate hochgehalten werden, um eine Tröpfcheninfektion durch Schreien zu vermeiden. Dass die Demonstration ohne Abstand und ohne Mundschutz aufgelöst werden, ist hingegen völlig in Ordnung. Die Polizei muss aber eben schon auch mithelfen, dass das Demonstrationsrecht ausgeübt werden kann und gesundheitlich unbedenkliche Versammlungen zulassen.
Zur Person
Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin und arbeitet als Lehrbeauftragte an der Universität Wien und als selbständige Beraterin für mehr Demokratie in österreichischen Städten und Gemeinden. Sie forscht und lehrt zu sozialen Fragen von Demokratie und Verfassung.
Buchtipp
Tamara Ehs
KRISENDEMOKRATIE. Sieben Lektionen aus der Coronakrise.
Wien 2020, Mandelbaum Verlag
108 Seiten
ISBN 978385476-893-7
12 Euro