Eine spannende fächerübergreifende Analyse unseres Wirtschaftssystems hat die Soziologin und Kulturhistorikerin Riane Eisler vorgelegt. Sie träumt von einer Fürsorge-Wirtschaft.
Nach ihrer Flucht vor den Nazis aus Wien als Achtjährige wuchs Riane Eisler ab 1939 zunächst in Kuba auf und lernte dort, was Armut bedeutet. Die Eislers hatten ihren gesamten Besitz zurücklassen müssen und wurden aus dem Wohlstand in ein Leben in stinkenden, baufälligen Gebäuden katapultiert. Als ihre Eltern in Havanna ein kleines Unternehmen aufgebaut hatten und es der Familie wieder besser ging, war Riane Eisler immer noch von Menschen umgeben, die in kakerlakenverseuchten Bruchbuden, obdachlos, bettelnd, körperlich schwer arbeitend lebten, während die kubanischen Eliten ein opulentes Luxusdasein führten.
Das prägte. Und brachte Riane Eisler dazu, gegen die „Ökonomie der Unterwerfung“ zu opponieren. Es beruht auf einem „Dominanzsystem“. Dem hält die US-amerikanische Kulturhistorikerin, Systemwissenschaftlerin und Soziologin ein „Partnerschaftssystem“ entgegen: Im Gegensatz zu konventionellen Wirtschaftstheorien möchte Eisler vor allem die Fürsorge, das englische „Care“, berücksichtigt wissen – Fürsorge „gegenüber uns selbst, gegenüber anderen und gegenüber unserer Mitwelt“. Sie fordert nicht weniger, als Wirtschaft neu zu denken. Schließlich werden ökonomische Systeme von Menschen geschaffen. Sämtliche wirtschaftliche Institutionen und Wirtschaftsprogramme, ob Aktienbörsen und Unternehmen, Kolonialismus, Sklavenarbeit oder Arbeits- und Sozialversicherungen, sind menschliche Erfindungen. Aber welcher Art diese Konstrukte sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen, hängt vom herrschenden Wertesystem ab.
Wie Riane Eisler unsere Wirtschaftsstrukturen, unter denen ja auch viele Menschen und andere Ressourcen des Planeten Erde zu leiden haben, fächerübergreifend analysiert und revolutionieren möchte, ist in ihrem Buch „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie – Wege zu einer Caring Economy“ nachzulesen. 2007 erschienen, liegt es erst 13 Jahre später in deutscher Übersetzung vor – was umso mehr für den Inhalt spricht. Ergänzt um ein aktuelles Vorwort heißt es da vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie: „Der Zusammenbruch der globalen Wirtschaft hat weltweit die Strukturfehler unseres derzeitigen Systems aufgedeckt, das weder nachhaltig noch gerecht ist und in dem eine realitätsferne Politik sowie realitätsuntaugliche Regeln, Anreize und Praktiken herrschen.“
Der englische Originaltitel „The Real Wealth of Nations“ führt direkt zu Eislers Kernforderung, dass Care-Arbeit stärker einfließen muss in die Messung von Wohlstand – Indikatoren von Wirtschaftsproduktivität wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder das Bruttonationaleinkommen (BNE) greifen zu kurz. Diese konstruierten Spielregeln müssen geändert werden, findet sie.
Auch Männer übernehmen mehr Care-Arbeiten, sodass diese Tätigkeiten mehr Anerkennung finden und der Anteil von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit ausgeglichen ist, beide Geschlechter haben dort die gleichen Chancen – und in den Privathaushalten die gleichen Verantwortlichkeiten. Schulen fördern die Fähigkeiten für empathische persönliche Beziehungen. Da unsere materiellen, emotionalen und geistigen Bedürfnisse gestillt sind, verkleinert sich der Markt für Drogen, illegale Waffen, sexuelle Ausbeutung und Prostitution. So könnte eine „Care-Revolution“ laut Riane Eisler aussehen. Wir können die evolutionär in uns angelegten Gaben nutzen, um eine neue ökonomische Realität zu schaffen, meint sie. Ob es dazu kommt, ist wohl eine Frage des Wollens.
Riane Eisler
Die verkannten Grundlagen der Ökonomie – Wege zu einer Caring Economy
Büchner Verlag, Marburg 2020
234 Seiten, ISBN 978-3-96317-215-1
22 Euro