Viele Menschen trauen der Politik keine großen, zukunftsweisenden Entscheidungen mehr zu. Die Journalistin Nina Horaczek und der Ökonom Walter Ötsch sehen daher die Demokratie in einer Krise. In ihrer „Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik“ proklamieren sie nun: „Wir wollen unsere Zukunft zurück!“ Gezeigt wird dabei auch an Hand von vielen Beispielen, wie selbst kleine Initiativen die Welt ein bisschen verändern können.
Die Corona-Krise hat die Welt auf den Kopf gestellt. Es wurde aber auch etwas Positives sichtbar: „In der Pandemie hat die Politik klar gezeigt, dass sie handlungsfähig ist und die Welt verändern kann – sie muss nur den Mut haben, es auch zu tun“, schreiben Ötsch und Horaczek. Zuvor herrschte die Meinung vor, Politik könne mal da, mal dort an einem Rädchen drehen, aber große, verändernde Entscheidungen seien nicht zu erwarten – so jedenfalls die Einschätzung vieler Menschen, die sich daher auch nicht mehr von den politischen Parteien vertreten fühlen. Die Demokratie befinde sich daher in einer Krise, so der Befund der beiden AutorInnen.
Die Ursache sehen sie vor allem in der zunehmenden Vorherrschaft des Neoliberalismus, vor allem seit dem Zusammenbruch des Kommunismus. „Der Neoliberalismus hat alle großen politischen Denksysteme ausgehöhlt und ihre politische Phantasie geraubt. Das gilt für konservative, liberale und sozialdemokratische Strömungen. Sie sind, jede auf ihre Weise, vielfältige Synthesen mit dem Neoliberalismus eingegangen und haben dabei, jede auf ihre Weise, ihre eigentlichen Werte verloren beziehungsweise bis zur Unkenntlichkeit verformt.“
Als Beispiel wird der Umbau des Universitätssystems in Europa im Zug des Bologna-Prozesses plastisch dargestellt. „Bildung wird hier als Produktionsfaktor gesehen und unmittelbar der Wirtschaft unterstellt.“ Bildung werde als Investition gesehen, „bei der die Lernenden Humankapital aufbauen“. Jede Unterrichtseinheit und jede Lernanstrengung werde nun mit Credit Points bewertet. „Aber Quantitäten können keine Qualitäten messen. Die Anzahl der ECTS-Punkte ist kein Kriterium für die Qualität eines Studiums.“ Zum Schlagen kommt hier die Vorstellung eines marktkonformen Menschen. Hier liege die Ansicht zu Grunde, dass Menschen von außen lenkbar seien und dass sie sich selbst verändern könnten, um den äußeren Anforderungen besser zu entsprechen.
Menschen hätten aber durchaus – Politikmüdigkeit hin oder her – den Wunsch, etwas zu verändern. Die Möglichkeit, das auch tun zu können, wird aber als gering eingeschätzt. Und hier machen Ötsch und Horaczek Mut. Sie betonen, dass auch Minderheiten etwas verändern können. Durch ihre Beharrlichkeit und das Vorzeigen, was Veränderungen bewirken können, können sie sogar langfristig zu kollektivem Umdenken beitragen.
Um zu veranschaulichen, wie solche Initiativen aussehen können, holen die AutorInnen 111 kleinere und größere Projekte aus der ganzen Welt vor den Vorhang. Das Gros setzt sich im Bereich Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz ein – die Umwelt für künftige Generationen zu schützen, das formulieren Ötsch und Horaczek auch als zentrales Ziel einer Politik für die Zukunft. Und so erfährt man beispielsweise, dass es in Eskilstuna in Schweden eine Recycling-Mall gibt, in der auf 5.000 Quadratmetern Second Hand-Ware von Kleidung über Möbel bis zu Elektrogeräten verkauft werden. Oder dass eine kleine Wiener Brauerei Brot, das in sonst auf dem Müll landen würde, als Ersatz für den Gerstenanteil unter dem Namen „Wasted“ zu Bier verarbeitet. In Sir Lanka wiederum wurde im Frühjahr 2021 der Anbei und Import von Palmöl verboten. Jährlich sollen nun zehn Prozent der 11.000 Hektar Palmölplantagen auf umweltfreundliche Pflanzen umgestellt werden.
Ötsch und Horaczek ermuntern die LeserInnen, an Veränderungen zu glauben und auch ihren Handlungsspielraum nicht zu unterschätzen. Denn eines habe die Corona-Krise eben auch – vor allem in den ersten Wochen – gezeigt: es gibt Solidarität. Darauf muss man nun aufbauen.
Walter Ötsch / Nina Horaczek
Wir wollen unsere Zukunft zurück!
Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik
Verlag Westend, Frankfurt/Main 2021
224 Seiten, 18,00 €
ISBN 978-3-86489-331-5