Im Kielwasser der Krise bekommen nationalistische Strömungen in Europa Auftrieb. Aus der stark emotional geführten Debatte machen Populisten ihr politisches Kleingeld. Die Schwachstellen der Konstruktion der europäischen Union werden deutlich. Doch ein Kurswechsel hin zu einer stärkeren gesamteuropäische Demokratie wäre möglich.
Das Ja der deutschen Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe zum permanenten Euro-Schutzschirm ESM Mitte September hat den Verantwortlichen in Europas Hauptstädten und sogar im fernen Washington DC einen großen Stein vom Herzen fallen lassen. Der Weg ist frei zu einem dauerhaften Finanzinstrument, mit dem die Europäer der weltweiten Spekulation gegen ihre Währung entgegen treten können, so sehen es die Optimisten. Sogar Barack Obama kann hoffen, dass vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen Anfang November aus Europa keine Katastrophenmeldungen mehr kommen werden.
Erstmals seit langem sehen die Europäer die Chance zu einer Konsolidierung, die nicht durch den nächsten Sturm auf den Finanzmärkten hinweggeblasen wird. Politisch fassen die proeuropäischen Parteien der Mitte, die von rechten und linken Populisten so häufig vor sich her getrieben werden, nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden Hoffnung. Der Rechtspopulist Gert Wilders, ein Shooting Star für Europas Rechte, ist mit seiner Forderung nach einer Wiedereinführung des Gulden krachend gescheitert. Die Niederlande gelten als Barometer. Die Bürger sind zwar enttäuscht, weil die EU sie von den negativen Folgen der Globalisierung zu wenig schützen konnte. Aber das Risiko eines Zerfalls, mit neuen Grenzen und der Rückkehr alter Feindschaften, wollen die wenigsten eingehen.
Gesamteuropäische Demokratie
Dass die Zukunft von 500 Millionen EU-Bürgern von der Fortüne eines einzigen Regierungschefs, wie in dem Fall des Niederländers Marc Rutte abhängt, ist eigentlich absurd. Schließlich gibt es auch Gegenbeispiele, bei denen innenpolitische Skandale Europa an den Rand des Kollaps trieben. Der Höhenflug der rechten ‚Wahren Finnen’ brachte die Griechenlandhilfe mehrmals an den Rand des Scheiterns, weil Helsinki als Reaktion immer härtere Bedingungen stellte. Eine slowakische Nationalistenpartei, die inzwischen keine Rolle mehr spielt, gefährdete den Euroschutzschirm ESFS. Und warum eigentlich acht ausschließlich auf das Grundgesetz eines einzigen Landes, der Bundesrepublik Deutschland, angelobte Verfassungsrichter in Karlsruhe, das Überleben des Euro in der Hand haben sollen, ist auch nicht wirklich einsichtig.
Die Eurokrise hat deutlicher denn je das Fehlen einer funktionierenden gesamteuropäischen Demokratie aufgezeigt.
Dank des EU-Reformvertrages sollte Europa seit 2009 eigentlich effizienter und demokratischer funktionieren. Tatsächlich werden die meisten Beschlüsse vom Europaparlament und den Mitgliedsstaaten gemeinsam gefällt. Aber die internationale Finanzkrise hat das Gewicht der Nationalstaaten schlagartig erhöht. Um die Rettung des Euro rangen in nächtlichen Krisengipfeln Staats- und Regierungschefs. Die Europaabgeordneten blieben im Hintergrund.
Ringen um den Euro
Der Grund ist einfach: Entgegen einer häufig geäußerten Meinung ist das EU-Budget, das vom Europaparlament kontrolliert wird, im Verhältnis zur Wirtschaft des Euroraums winzig. Mit 1 Prozent des Bruttonationalprodukts, die Brüssel verteilt, kann der Euro nicht verteidigt werden. Die Budgetmittel der Nationalstaaten sind um vieles größer. Sie machen etwa ein Fünftel der Wirtschaftsleistung aus. Die finanziellen Mittel, um der internationalen Spekulation gegen die Gemeinschaftswährung zu begegnen, müssen daher von den Nationen kommen.
Das Europäische Parlament ist der große politische Verlierer im Ringen um den Euro. Angela Merkel, die Regierungschefin der wichtigsten Wirtschaftsmacht, wurde zur Schlüsselfigur der Eurorettung. Die deutsche Kanzlerin ist genauso wie der österreichische Bundeskanzler von der Zustimmung nationalen Abgeordneten abhängig, nicht von den Meinungsäußerungen des Europaparlaments.
Die Parlamente in Berlin und Wien, Helsinki und Den Haag haben sich bei den Verhandlungen um den Euroschutzschirm so starke Mitspracherechte ausbedungen, dass sich manche Finanzexperten die Haare raufen. Während im High Frequency Trading der Spekulanten innerhalb von Sekundenbruchteilen Milliardenbeträge quer über den Erdball gejagt werden, müssen in Europa erst parlamentarische Kommissionen und Ausschüsse zusammentreten, bevor reagiert werden kann. Eine Fessel der nationalen Gesetzgeber für den eigenen, den europäischen Stabilisierungsmechanismus, die bei den ebenfalls beträchtlichen Ausgaben für den viel weiter entfernten Internationalen Währungsfonds nicht einmal angedacht werden.
Nationale Konflikte
Noch schwerwiegender ist die Gefahr, dass mit der ausschließlichen Kontrolle der nationalen Parlamente über europäische Gelder nationaler Zwist geschürt wird. Es klingt zwar sehr demokratisch, wenn jeder Euro, den Europa ausgibt, in den Nationalstaaten dreimal umgedreht wird. Aber die reichen Nordstaaten bestimmen mit ihren Beschlüssen über Finanzhilfen und Sparvorgaben nicht nur über die eigenen Finanzen, sondern auch über die Volkswirtschaften in den schwächeren Südstaaten. Eine gefährliche Konstellation für eine Vielvölkergemeinschaft, die durch gegenseitigen Respekt die Feindbilder vergangener Jahrhunderte zum Verschwinden bringen wollte.
Aus gutem Grund entscheidet in einem Bundesstaat wie Österreich nicht der Wiener Gemeinderat über Haftungen, von denen Kärnten oder andere Bundesländer profitieren. Glücklicherweise muss nicht Norditalien jede Rate im Finanzausgleich mit dem Mezziogiorno genehmigen. Auch die Milliardenzahlungen Westdeutschlands in die Gebiete der ehemaligen DDR werden nur selten zum Thema. Kein Gemeinwesen könnte auf die Dauer nach dem Prinzip funktionieren, dass über jeden Transfer einzeln abgestimmt werden muss.
Die Parlamente in Berlin und Wien, Helsinki und Den Haag haben die strengen Bedingungen für die Hilfsmilliarden an Griechenland, Portugal oder Irland diskutiert und beschlossen. Der Deutsche Bundestag pocht dabei regelmäßig auf zusätzliche Verschärfungen. Nicht ganz unverständlich, dass Griechen oder Portugiesen, die ihre Jobs verlieren oder weniger Pensionen erhalten, Deutschland und nicht den anonymen Finanzmärkten die Schuld geben. Wie oft wurde im Deutschen Bundestag oder im Hohen Haus in Wien nicht über Griechenland diskutiert. Ist es nicht grotesk, dass nicht ein einziges Mal auch ein Grieche dabei war? In Athen schleuderten die Abgeordneten zur gleichen Zeit die wildesten Anschuldigungen gegen Deutschland in den Raum, das angeblich die Hauptschuld trägt ab den verheerenden Kürzungen. Selbstverständlich ohne dass je ein deutscher Vertreter mitdiskutiert hätte. Als einziger hochrangiger deutscher Politiker hat sich der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz vor wenigen Monaten in die Höhle des Löwen am Athener Syntagma Platz gewagt.
Die starken Emotionen gegen „die Griechen“ sind das alarmierendste Zeichen der Renationalisierung in Teilen der europäischen Öffentlichkeit. Klar, verschiedene griechische Regierungen haben in unverantwortlicher Weise Statistiken frisiert und Schulden angehäuft. Aber die griechische Bevölkerung leidet seit Jahren massiv an den Folgen der Sackgasse, in der die Eliten das Land manövriert haben. Ein Ausscheiden aus dem Euro würde die Situation nach Überzeugung der meisten Ökonomen dramatisch weiter verschlechtern. Trotzdem ist es populär im Rauswurf Griechenlands aus dem Euro ein Heilmittel gegen die Krise zu sehen. Dabei erweist sich keine Gemeinschaft als stark, wenn ihr bei Schwierigkeiten nichts anderes einfällt als schwache Mitglieder hinaus zu drängen. Das griechische Ausscheiden aus dem Euro, würde international wohl primär als Zeichen gescheiterten Krisenmanagements und fehlender Solidarität gewertet werden.
Hybride Konstruktion
Die Europäische Union ist von ihrer Konstruktion her ein Hybrid, eine Mischform zwischen Bundesstaat und Staatenbund. Die nationalstaatliche Souveränität, die bei einem Staatenbund in den nationalen Hauptstädten bleibt, ist in der Europäischen Union durch die gemeinsam wahrgenommenen Kompetenzen eingeschränkt. Gleichzeitig ist man von einem Europäischen Bundesstaat weit entfernt. Die Finanzkrise hat die Schwächen dieser Hybridkonstruktion EU aufgezeigt. Die Europäer müssen entscheiden, ob sie den Zerfall riskieren wollen, bei dem jeweils die schwächsten Glieder von der internationalen Spekulation herausgebrochen werden. Oder ob eine Entwicklung in Richtung Vereinigte Staaten von Europa eingeleitet wird, auch wenn diese ein deutlich anderes Gesicht hätten als die USA.
Euro-Finanzminister
Als nächste Phase der europäischen Union haben die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Junigipfel Ratspräsident Herman van Rompuy beauftragt, einen Fahrplan zum engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss der EU vorzulegen. Ein Euro-Finanzminister steht im Raum. Er oder sie könnte auf die Budgets der nationalen Parlamente Einfluss nehmen und bei finanziellen Ungleichgewichten mit Hilfe der milliardenschweren Euroschutzschirme ausgleichend eingreifen. Wenn Wirtschaftskrise und Sparpolitik den Wohlfahrtsstaat aushöhlen, wäre es dann nicht logisch auch an ein europaweites System der Mindestsicherung zu denken, das eingreift, wenn die Nationalstaaten ausgeblutet sind? Schließlich haben sich auch die urkapitalistischen USA in der großen Depression der Dreißigerjahre an den Aufbau ihres kontinentalen Systems der Social Security gemacht.
Die genaue Jobbeschreibung eines Euro-Finanzministers ist Zukunftsmusik. Sie müsste in einem Konvent beraten werden, bei dem Parteien, gesellschaftliche Organisationen und Staaten prüfen, welche neuen Regeln erwünscht sind. Danach Parlamentsbeschlüsse in 27 und demnächst 28 Mitgliedsstaaten. Und natürlich Volksabstimmungen in mehreren Mitgliedsstaaten, diesmal wahrscheinlich auch in Deutschland. Auf eines kann man sich verlassen: ein solcher Anlauf wird Jahre dauern.
Aber die Grundideen werden jetzt schon diskutiert. Ein eigener Euro-Ausschuss des Europaparlaments könnte zum Beispiel die Kontrolle über die großen Finanzmittel übernehmen, die zur Stabilisierung des Euro und die Stärkung des Finanzsystems erforderlich sind. In manchen nationalen Parlamenten wird erwogen eigene Euro-Beauftragte zu wählen, die in den europäischen Entscheidungsprozess eingebunden sind.
Wahl des Kommissionspräsidenten
Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso hat in seiner letzten Rede zur Lage der Union einen Vorschlag gemacht, der viel rascher umzusetzen ist: Die großen Parteienfamilien Europas könnten ganz ohne Vertragsveränderung schon bei den nächsten Europawahlen im Sommer 2014 mit einem Bewerber für die Position des EU-Kommissionspräsidenten als europaweitem Spitzenkandidaten in den Wahlkampf gehen. Der Spitzenkandidat der Wahlsieger würde der Quasi-Regierungschef der EU. Die Österreicherinnen und Österreicher würden dann nicht nur die Europaabgeordneten von ÖVP, SPÖ, Grünen oder Freiheitlichen wählen, sie würden mit ihrer Stimme auch eine Person als Kommissionspräsident nach Brüssel schicken. Es wäre eine kleine Revolution für die EU.
Das kleine Luxemburg praktiziert dieses Modell bereits seit Jahren bei der Direktwahl des EU-Kommissars. Justizkommissarin Viviane Reding, eine der wortgewaltigsten Mitglieder der Kommission, verdankt ihren Job einem Wahlsieg der luxemburgischen Christdemokraten bei den letzten Europawahlen, als deren Spitzenkandidaten sie ins Rennen ging. Das Beispiel scheint Schule zu machen.
Längst kämpfen hinter den Kulissen bereits die Interessenten um die besten europaweiten Plätze. Der Präsident des Europaparlaments, der Deutsche Martin Schulz, ist der aussichtsreichste Kandidat bei den Sozialdemokraten. Komplizierter ist die Lage bei der christdemokratischen Europäischen Volkspartei. Polens Ministerpräsident Donald Tusk wäre als erster Kommissionspräsident aus einem neuen Mitgliedsstaat eine attraktive Option. Viviane Reding würde als erste Frau an der Spitze der Kommission Geschichte schreiben. Schließlich kann auch eine dritte Amtszeit für Jose Manuel Barroso nicht völlig ausgeschlossen werden. Bei den Grünen wäre der französisch-deutsche Daniel Cohn-Bendit, ein Politstar der Revolte von 1968, ein ideales Zugpferd, selbst ohne viel reale Chancen. Klar ist, dass jeder Kommissionspräsident, der Europawahlen gewonnen hat, eine viel stärkere Position gegenüber den nationalen Regierungschefs hätte als heute.
Den internationalen Finanzmärkten, die die Weltwirtschaft seit 4 Jahren destabilisieren und den demokratischen Entscheidungsprozess aushöhlen, Zügel anzulegen, dazu sind im Alleingang selbst große Nationalstaaten zu schwach. Das wird inzwischen selbst von EU-Skeptikern zugegeben. Die Konsequenz zu ziehen und in Richtung Vereinigte Staaten von Europa zu gehen, die von gleich zu gleich mit China oder den USA um klare Regeln für die Finanzwelt des 21.Jahrhunderts ringen, tun sich die Europäer jedoch schwer.
Raimund Löw ist Historiker, Journalist und Publizist. Er ist unter anderem als Auslandskorrespondent des ORF sowie als Kommentator des Falter tätig.