Die Krise macht bestehende Probleme sichtbarer

Foto: Weber Media

Gesundheitsjournalist Martin Rümmele erklärt im Interview, warum die Covid-19 Pandemie einen sozialpolitischen Wendepunkt darstellt und die Krise als Chance für überfällige Veränderungen dienen sollte. Zukunftsperspektiven für das Gesundheits- und Sozialsystem hat er mit dem Public Health-Experten Martin Sprenger und 35 anderen ExpertInnen in einem Sammelband gefasst.

KOMPETENZ: Sie haben gemeinsam mit dem Public Health Experten Martin Sprenger ein Buch herausgegeben, das Corona als Chance für eine Zeitenwende im Gesundheitswesen bezeichnet. Was ist die Intention des Buches?

RÜMMELE: Mit zunehmendem Wissen über das neue Virus war im Frühjahr rasch klar, dass der länger andauernde, krisenhafte Zustand wie ein Brennglas wirken wird: Bestehende Probleme in unserem Gesundheits- und Sozialsystem treten deutlicher zutage und sind damit für die breite Öffentlichkeit viel sichtbarer geworden.

KOMPETENZ: Was wollten Sie in dem Buch herausarbeiten?

RÜMMELE: Wir haben ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen wie Umweltmedizin, Gesundheitssoziologie, Intensivversorgung, Pflege, Gesundheitsförderung, Telemedizin, Armut, Steuern und Pharma um eine Bestandsaufnahme der Probleme in ihrem jeweiligen Bereich VOR der Pandemie gebeten. Nach einer Darstellung der Auswirkungen von Covid-19 im ersten Halbjahr 2020 und den daraus drohenden Folgen haben wir den Schwerpunkt auf eine Darstellung dessen gelegt, was es nach Ansicht der ExpertInnen bräuchte, um möglichst ohne negative Folgen aus der Krise zu kommen.

Wir wollten aufzeigen, was in Folge der Krise passieren kann und Möglichkeiten eröffnen um gegenzusteuern. Wenn man die Krise als Chance begreift, kann man Konzepten, die bislang gebremst wurden, zum Durchbruch verhelfen.

KOMPETENZ: Sind die Analysen überraschend ausgefallen?

RÜMMELE: Viele der dargestellten Probleme existierten ja großteils bereits vor der Pandemie. Aufgrund der Krise hat sich der Druck in allen Lebensbereichen verstärkt, bestehende Problemlagen wurden intensiviert und sind dadurch sichtbarer geworden. Der Gesamtüberblick zeigt, dass wir vor einer Richtungsentscheidung stehen: weiter machen, wie vor Corona oder das zu tun, was es wirklich braucht, um die Systeme zu verbessern.

KOMPETENZ: Gibt es Gemeinsamkeiten in den Prognosen?

RÜMMELE: Ja. Die drohende Gefahr, dass am Ende des Tages die gesamten Kosten der Pandemie auf die Betroffenen und damit auf die Beschäftigten umgewälzt werden und der Spardruck weiter steigt, zieht sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Beiträge.

KOMPETENZ: Wie könnte das passieren?

„Es besteht die Gefahr einer verstärkten Liberalisierung und Entsolidarisierung in vielen Gesellschaftsbereichen.“

Martin Rümmele

RÜMMELE: Der Tenor der ExpertInnen ist, dass wir vor einer Weichenstellung stehen. Aus der Krise heraus wird es Entscheidungen darüber geben müssen, in welche Richtung die Gesundheits- und Sozialsysteme gelenkt werden, wie sie künftig organisiert und finanziert werden. Es besteht die Gefahr einer verstärkten Liberalisierung und Entsolidarisierung in vielen Gesellschaftsbereichen.

KOMPETENZ: Wieso das?

RÜMMELE: Die Pandemie verursacht enorme Kosten, die wieder eingebracht bzw. umgeschichtet werden müssen. Die Gretchenfrage dabei ist, welche Gruppen dabei belastet und welche entlastet werden. Wir stehen vor der Entscheidung zwischen einem liberalisierten, entsolidarisierten, gewinnmaximierenden und privatisierten System oder einem solidarischen, gemeinsam finanzierten System, das die Menschen  in den Mittelpunkt stellt.

KOMPETENZ: Welche Bereiche sind besonders verwundbar?

RÜMMELE: Viele Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens kämpfen seit geraumer Zeit mit Personalmangel, große strukturelle Probleme gibt es vor allem bei der Pflege und im Intensivbereich. Dass es dort rasch eng werden kann, zeigt die aktuelle Krise. Die Experten wussten das auch vor Covid-19:

Nun sind die Probleme virulent und für die breite Öffentlichkeit offensichtlich geworden. Das Virus und die folgende Krise haben strukturelle Probleme, die seit Jahren und Jahrzehnten bestehen, innerhalb kürzester Zeit verschärft.

KOMPETENZ: Welche zum Beispiel?

„In den vergangenen 20 Jahren wurden in Österreich 14 Prozent der Krankenhausbetten abgebaut – da waren auch Intensivbetten dabei.“

Martin Rümmele

RÜMMELE: In den vergangenen 20 Jahren wurden in Österreich 14 Prozent der Krankenhausbetten abgebaut – da waren auch Intensivbetten dabei. Was diese Einsparungen und Rationalisierungen im Fall einer Krise bedeuten, das sehen wir jetzt: In Europa haben jene Länder die höchsten Fallzahlen, in denen das Gesundheitswesen in den letzten Jahren massiv zusammengespart worden ist.

KOMPETENZ: Sie wollen in die Zukunft schauen anstatt Missstände zu beklagen?

RÜMMELE: Genau, wir wollten einen fundierten Blick in die Zukunft richten und den Diskurs darüber verstärken, was für die Zeit nach der Krise notwendig sein wird um gut rauszukommen und für die Zukunft so aufgestellt zu sein, dass uns solche Krisen nicht mehr oder nicht mehr so stark treffen können. Es geht um die Frage: Was kommt danach? Wir haben alle Fakten und Probleme auf den Tisch gelegt und versucht, daraus für Laien verständliche Lösungen abzuleiten. Wir wollten Problembereiche diskutieren und dringend notwendige Auswege sichtbar machen.

KOMPETENZ: Darüber muss schon heute nachgedacht werden?

RÜMMELE: Änderungen sind unumgänglich, wenn wir diese nicht selber aktiv gestalten, dann werden sie ohne unser Zutun passieren. Irgendjemand wird die Kosten für die Pandemie bezahlen müssen. Die Frage ist, wo Einsparungen stattfinden werden.

Diejenigen die im Gesundheitsbereich einsparen wollen, sind in der Krise nicht verschwunden, sie sind auch nicht geläutert. Und sie sammeln bereits ihre Argumente. Wir müssen einen politischen Diskurs über die Finanzierung der Systeme führen, hier geht es um Verteilungsfragen.

KOMPETENZ: Wie könnten gerechte Veränderungen gestaltet sein?

RÜMMELE: Ich denke, wir sollten die Krise zum Anlass nehmen um unser soziales Netz zu stärken anstatt es schlecht zu reden. Vor der Corona-Krise gab es eine Diskussion über eine angeblich zu hohe Zahl an Intensivbetten im Land – Einsparungswünsche in diesem Bereich erscheinen angesichts der aktuell angespannten Kapazitäten als scheinheilig.

Die Covid-19 Krise hat auch deutlich gezeigt, dass mit dem Slogan „jeder schaut nur auf sich selber“ kein Durchkommen ist. Eine Bewältigung ist nur in einem solidarischen Miteinander möglich, man muss auf andere Rücksicht nehmen, weil man versucht, alle zu schützen. Diese Erkenntnis muss richtungsweisend sein. Niemand kann sich alleine vor den Risken des Lebens schützen. Wir müssen unseren Sozialstaat stärker machen und unsere Gesundheits- und Sozialsysteme gemeinsam schützen. Um für derartige Krisen gewappnet zu sein, werden wir auch Geld ausgeben müssen.

Das bedeutet auch, dass alle ihren Beitrag leisten müssen –nicht nur arbeitende Menschen, die mit Abgaben auf Löhne und Gehälter die Systeme tragen, sondern auch Vermögende und Konzerne, die sich bisher in Steuersümpfe flüchten.

KOMPETENZ: Sind die Systeme für Veränderungen bereit?

RÜMMELE: Wir müssen die Systeme so organisieren, dass wir auf die nächste Krise vorbereitet sind. Wir haben bereits jetzt in vielen Bereichen zu wenig Personal und falsche Versorgungsangebote. Der Personalmangel und die augenscheinliche Überlastung der Strukturen sind ohne Zweifel wenig förderlich, wenn es darum geht, junge Leute zu motivieren in diesen Bereichen zu arbeiten. Weil das Gehaltsniveau nicht blendend hoch ist, werden sich die Nachwuchsprobleme vor allem im Bereich der Pflege weiter verschärfen. Wir müssen vor allem auch jene Bereiche, die nah an den Menschen sind, wie den niedergelassenen Bereich und wohnortnahe Pflege stärken.

KOMPETENZ: Sehen Sie im aktuellen politischen Klima eine Chance zum Ausbau des Sozialstaates?

RÜMMELE: Leider braucht es oft eine Krise um Kräfte zu mobilisieren und Problemlösungen umzusetzen. Wir dürfen nicht den Fehler machen zur Normalität überzugehen, nur weil – symbolisch – die akuten Schmerzen der Krankheit vorüber sind.

Wir denken Gesundheit neu!

Corona als Chance für eine Zeitenwende im Gesundheitswesen

In dem Sammelband „Wir denken Gesundheit neu! haben Martin Rümmele und Martin Sprenger 35 weitere ExpertInnen aus verschiedenen Bereichen des Gesundheits- und Sozialsystems dazu eingeladen, Zukunfts-Szenarien für Systemveränderungen nach der Covid-19 Krise zu entwerfen. Darunter Martin Schenk (Diakonie, Armutskonferenz), Alexandra Strickner (Attac), Claudia Wild (Austrian Institute for Health Technology Assessment), Hans-Peter Hutter (Umweltmediziner), Monika Wild (Rotes Kreuz), Sir Harry Burns (Schottland), Peter Allebeck (Karolinska Institut Stockholm) und Martin McKee (London School of Hygiene and Tropical Medicin).

ISBN/EAN978-3-9519818-0-2
Ampuls Verlag 2020
184 Seiten

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