Trotz hoher Standards in der Versorgung und großer Zufriedenheit der Menschen mit dem Gesundheitssystem hat die Politik die soziale Krankenversicherung wieder einmal als ihr liebstes Feigenblatt für Einsparungen entdeckt. Abseits der öffentlich inszenierten Einsparungsdebatten steigen die beruflichen und sozialen Belastungen für die Beschäftigten im Gesundheitssystem weiter an. Die Stimmung unter den Beschäftigten ist angespannt.
Jedes Baby, das in Österreich auf die Welt kommt, wird in ein Schutzsystem hineingeboren, das umfassende Versorgung und Absicherung im Falle von Krankheit, Alter, Tod oder Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit bietet. Die heutige Generation musste um dieses System, das die österreichische Sozialversicherung bereitstellt, nicht kämpfen. Unsere Eltern, Großeltern und deren Vorfahren haben dieses Herzstück unseres Sozialstaates aufgebaut. Vielleicht haben deshalb heute viele Menschen verlernt, die Vorzüge des Systems zu erkennen und auch zu schätzen. So mancher springt dann leicht auf den Zug der Kritiker auf, die aktuell wieder das Blaue vom Himmel versprechen und das Gesundheitssystem unter den Schlagworten Rationalisierungen und Zusammenlegungen billiger, besser und gerechter machen wollen.
Bei näherem Hinsehen perlen diese Phrasen an den Grundpfeilern des Systems der sozialen Krankenversicherung ab, wie Regen an einer Pelerine.
Die solidarische Finanzierung, bei der die Höhe der Beiträge von der Höhe des Einkommens abhängt, garantiert in unserem System, dass kranke Menschen keine höheren Beiträge bezahlen müssen als gesunde. Bei privaten Versicherungen ist das genau umgekehrt.
Die soziale Krankenversicherung kennt keine Risikenauslese. Das bedeutet, dass jede/r Versicherte – unabhängig vom Risiko eine bestimmte Krankheit, einen Unfall oder Invalidität zu erleiden – abgesichert ist. Private Versicherungen, die Gewinne an ihre AktionärInnen ausschütten müssen, lehnen eine Versicherung für RisikopatientInnen auch einfach mal ab oder verlangen unverhältnismäßig hohe Beitragszahlungen.
Das bestehende System der Pflichtversicherung begründet mit dem Überschreiten der monatlichen Geringfügigkeitsgrenze kraft Gesetz den Versicherungsschutz für die betreffenden ArbeitnehmerInnen und ihre Angehörigen. So sind nahezu 100 Prozent der in Österreich lebenden Menschen in das System der sozialen Krankenversicherung integriert. Das System der Pflichtversicherung gewährleistet einen gut funktionierenden Risikoausgleich zwischen Menschen, die gerade wenig aus dem System brauchen, und anderen, die in gewissen Lebensphasen aufwendige medizinische Behandlungen benötigen. Das System funktioniert mit einem sehr niedrigen Verwaltungsaufwand. Bei uns müssen die einzelnen Krankenversicherungsträger – anders als in Deutschland oder der Schweiz, wo das System der Versicherungspflicht gilt – nicht ständig miteinander im Wettbewerb stehen und können daher ihre Ressourcen voll und ganz für eine gute Versorgung der Versicherten einsetzen.
Private, gewinnorientierte Versicherungssysteme, die nur einen kleinen Teil der Gesundheitsversorgung finanzieren, haben demgegenüber einen sehr hohen Verwaltungsaufwand. Sie müssen viel Geld für Werbung, Marketing und Vertrieb ausgeben und Gewinne erwirtschaften.
Finanzierung gesichert
Die Finanzierung der sozialen Krankenversicherung basiert auf dem Umlageverfahren. Das bedeutet, dass mit den eingenommen Beiträgen direkt die Leistungen, wie beispielsweise Arztbesuche oder Medikamente, finanziert werden. Die Beiträge der Versicherten werden nicht auf den Finanzmärkten veranlagt, daher gibt es kein Finanzmarktrisiko.
Das System der Selbstverwaltung ist historisch gewachsen: Die Versicherten bzw. BeitragszahlerInnen (ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen) verwalten die Sozialversicherungsträger selbst. Dies bringt eine hohe Identifikation der SozialpartnerInnen und Versicherten mit „ihrer“ Sozialversicherung und hat dazu beigetragen, dass sich das System stabil entwickelt hat.
Getragen wird das System von den derzeit rund 28.000 Beschäftigten in der Sozialversicherung, die acht Millionen Versicherte betreuen. Sie arbeiten als Verwaltungsangestellte, ÄrztInnen, ArbeiterInnen oder in Gesundheitsberufen in eigenen Einrichtungen der Sozialversicherung – also in Ambulatorien, Unfallkrankenhäusern oder Rehabilitationseinrichtungen. Gewerkschaftssekretär Rudolf Wagner, der die Kollektivverträge für die Beschäftigten der Sozialversicherung mit verhandelt, präzisiert: „Die Angestellten in der Sozialversicherung leisten jeden Tag wertvolle Arbeit an den Menschen und tragen sehr wesentlich dazu bei, dass die hochwertige medizinische Versorgung in Österreich erhalten bleibt.“ Der große Einsatz im Job sollte auch durch spürbare Lohnerhöhungen belohnt werden. Für 2018 wurde eine Steigerung von 2,25 Prozent verhandelt. Doch weitere Verbesserungen lassen auf sich warten. „Die bessere Anrechnung von Vordienstzeiten ist ein großes Thema für die Beschäftigten. Vor allem aber die Wertschätzung für die von den Beschäftigten geleistete Arbeit“, betont Wagner.
Grenze des Erträglichen
Für Michael Aichinger, den Zentralbetriebsratsvorsitzenden
der Wiener Gebietskrankenkasse und Vorsitzenden des Wirtschaftsbereiches Sozialversicherung in der GPA-djp, ist die Grenze des Erträglichen in der öffentlichen Diskussion bereits deutlich überschritten: „Unsere Verwaltungsaufwendungen liegen bei maximal 2,3 Prozent des Budgets. Verglichen mit 40 anderen Ländern sind wir in der Administration am zweitbilligsten. Billiger funktioniert die Gesundheitsverwaltung nur in Japan, wo diese allerdings über die Gemeinden organisiert ist. Dort gibt es übrigens weit über 3.000 Verwaltungsstellen – in Österreich sind es gerade 21.“
Von einer übereilten Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger hält Aichinger daher nichts: „Durch eine Zentralisierung würde langfristig die Versichertennähe leiden und die Betreuung der Kunden würde sich verschlechtern.“ Eine Studie der London School of Economics zeige eindeutig, dass Betreuungsstellen vor Ort immer notwendig seien, und dass zentrale Strukturen in der Krankenversicherung das System teurer machen würden. „Monopolisten im Wirtschaftsleben kommen für die Kunden immer teurer. Durch einen zentralen Einkauf werden lokale Anbieter von Lebensmitteln oder Dienstleistungen und auch Handwerker benachteiligt und können nicht mehr beauftragt werden“, begründet Aichinger.
kein handelbares Gut
Hinter der Diskussion über Einsparungen im Verwaltungsbereich ortet Aichinger andere, privatwirtschaftliche Beweggründe: „Hier gibt es ein massives Interesse vonseiten der Wirtschaft, profitable Teile unserer Gesundheitseinrichtungen zu erwerben. Diese Teile will man aus dem Gesamtsystem herauslösen und damit Gewinne machen. Die verlustbringenden Zweige will man im System belassen.“ Aichinger sieht den Gesundheitsmarkt gut aufgeteilt, weitere Verschiebungen würden zulasten der Bevölkerung gehen: „Gesundheit ist kein handelbares Gut, es muss allgemein verfügbar und für alle finanzierbar und leistbar bleiben.Mögliche Einsparungen, die aus Zusammenlegungen resultieren würden, schätzt Aichinger gering ein: „Rechnungshof und Ministerien überprüfen regelmäßig die Kosten und Gehälter in der Sozialversicherung. Unsere bestverdienenden leitenden Angestellten bekommen rund ein Zehntel dessen, was Führungskräfte von gleich großen Unternehmen in der Wirtschaft verdienen.“
Die Position der ArbeitnehmervertreterInnen in der Sozialversicherung will Aichinger weiter gestärkt sehen, denn bereits jetzt leisten die unselbstständig Beschäftigten einen weit höheren finanziellen Beitrag zum System als die Dienstgeber: „Über bestehende Selbstbehalte, aber auch über allgemeine Steuern, die das Spitalssystem speisen, bringen die ArbeitnehmerInnen mehr als die Hälfte der Finanzmittel auf.“ Aktuellen Tendenzen zur Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer steht Aichinger extrem kritisch gegenüber: „Für die Abschaffung kann nur sein, wer in Zukunft keine geregelten Arbeitsverhältnisse mehr haben und auf Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten will.“
Arbeitsverdichtung steigt
Die Betriebsratsvorsitzende des PVA-Rehabilitationszentrums Großgmain, Karin Kádár, befürchtet aufgrund der anhaltenden Diskussionen um Kosteneinsparungen negative Auswirkungen auf die Beschäftigten. Die Stimmung in allen Berufsgruppen sei ebenso angespannt wie die aktuelle Arbeitssituation: „Geplante, weitere Einsparungen würden uns massiv betreffen. Bereits jetzt wird der natürliche Abgang selten nachbesetzt. Der Altersdurchschnitt der MitarbeiterInnen im Pflege- und Therapiebereich ist sehr hoch, die Arbeitsverdichtung steigt in allen Bereichen enorm an.“
Kádár hat Probleme damit, die grassierenden neoliberalen Haltungen mit dem Alltag im Gesundheitssystem zu vereinbaren: „Die KollegInnen arbeiten für und mit PatientInnen. Warum wird die Arbeit von Menschen an anderen Menschen als System-Manko dargestellt?“ Die KollegInnen in den Einrichtungen seien teilweise sehr bedrückt, weil ständig vermittelt wird: „Deine Arbeit darf nichts kosten.“ Kádár findet das verlogen: „Die Tatsache, dass Krankenversorgung Geld kostet, wird damit rein auf das Personal abgewälzt. Hier geht es nicht mehr darum, was PatientInnen brauchen oder was die MitarbeiterInnen bräuchten, um die PatientInnen gut betreuen zu können. Es geht nur noch um Kostenminimierung.“
Keine Therapieroboter
Persönlich bedrückt es Kádár, dass viele Erkenntnisse, wie Menschen lange und gesund im Beruf gehalten werden könnten, und wie sie nach Krankheitsperioden wieder in den Beruf zurückkommen können, vom Tisch gewischt werden: „Unsere tägliche Praxis entspricht nicht dem, was wir über altersgerechtes Arbeiten wissen.“ Beschämt und verwundert ist Kádár darüber, dass „die Leistungen der Sozialversicherung für das Gemeinwohl öffentlich schlechtgeredet werden, und es kaum mehr Bereiche der Selbstbestimmung für die Beschäftigten gibt“: „Wir sind Fachkräfte, keine Therapieroboter!“ Eine Schlechterstellung der Beschäftigten ist für Kádár kein gangbarer Weg zur Kostenreduktion: „Ständig wird so getan, als wäre es unanständig, Sozialversicherungsangestellte ordentlich zu bezahlen. Wir haben ein hohes Beschäftigungsniveau, bezahlen Steuern und Abgaben, stecken unsere Gehälter in den Konsum und leisten damit insgesamt einen hochwertigen volkswirtschaftlichen Beitrag, ohne dem System Gewinne zu entziehen.“
Angespannte Situation
Die Vorsitzende des Bundesausschusses der Gesundheitsberufe in der Sozialversicherung Martina Kronsteiner bestätigt, dass die personelle Situation für die Beschäftigten angespannter wird: „Der Personalstand ist seit vielen Jahren unverändert, die Patientenzahlen steigen aber kontinuierlich. Der Arbeitsaufwand wird deswegen immer höher, weil die Menschen immer älter und damit pflegebedürftiger werden.“ Viele fragen sich, wie in dieser
Arbeitssituation weitere Einsparungen geleistet werden sollten.
Seit 1995 gibt es Einsparungsprogramme bei den Bediensteten der Sozialversicherung, die Personalkosten sind gedeckelt. Die Auswirkungen der steigenden Arbeitsbelastung sind längst sichtbar: „Langjährige MitarbeiterInnen werden durch den steigenden Druck immer weniger belastbar. Wir kämpfen auch sehr mit Langzeitkrankenständen.“
Unsichere Zukunft
Die Unsicherheit über die eigene Zukunft ist mittlerweile auch in der Belegschaft spürbar: „Nicht zu wissen, wie es mit der eigenen Einrichtung weitergeht, ob diese eventuell von einem Privaten übernommen wird, erzeugt Angst“, erklärt Kronsteiner. Die Gewerkschafterin warnt vor gröberen strukturellen Eingriffen in die soziale Krankenversicherung: „Vor allem Niedrigverdiener, die an der Armutsgrenze leben, würden massiv darunter leiden. Ich fürchte unser soziales Netzwerk könnte verschwinden, und die Bevölkerung wird das erst merken, wenn das System kaputt ist.“