Man kann es als Buch des Grauens lesen. Oder als Dokumentation des Dagegenhaltens. Für „Unfassbare Wunder“ (Böhlau Verlag) hat die Journalistin Alexandra Föderl-Schmid (derzeit Israel-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung) 25 Schoa-Überlebende porträtiert. Die eindrucksvollen Schwarz-weiß-Aufnahmen steuerte Konrad Rufus Müller bei.
Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Präzision sich bereits sehr alte Menschen an Details aus ihrer Kindheit erinnern. Wurden sie in der Zeit des Nationalsozialismus groß, sind diese Erinnerungen zugleich Zeugnis wie Mahnung. Föderl-Schmid sprach mit Überlebenden in Österreich, Deutschland und Israel. Viele sind ins Land ihrer Peiniger zurückgekehrt. Andere haben sich ein neues Leben in Israel aufgebaut und der alten Heimat auch innerlich adieu gesagt, wie Sidonie Goldstein, die 1922 in Wien geboren wurde, mit 1939 mit ihrer Familie nach Palästina flüchtete und heute in Jerusalem lebt. „Als ich am Bahnhof stand, habe ich gesagt: Ich komme nie wieder zurück. Nie wieder!“, erzählte sie Föderl-Schmid. Was die in „Unfassbare Wunder“ Porträtierten eint: Sie alle haben (oder hatten – Rudi Gelbard etwa, der große Kämpfer gegen Faschismus und Antisemitismus ist vor wenigen Monaten in Wien verstorben) ein erfülltes Leben. Aber das, was ihnen zugestoßen ist, damit müssen sie in jeder Stunde ihres Seins zurechtkommen.
„Das Sprichwort, ‚Zeit heilt Wunden’ gilt nicht für Auschwitz. Diese Wunde heilt nicht und wird eigentlich schlimmer, wenn man älter wird“, sagt etwa Eva Umlauf. Sie wurde 1942 in einem Lager in der Slowakei geboren, im Alter von zwei Jahren wurde ihr im KZ Auschwitz eine Nummer in den Arm tätowiert. Sie lebt heute in München und arbeitet als Psychotherapeutin. Otto Stark, 1922 in Wien geboren, konnte mit einem Kindertransport gerettet werden. Er verbrachte schließlich den Großteil seines Lebens in Berlin, wo er viele Jahre das Kabarett „Die Distel“ leitete und schließlich vergangenen November starb. „Ein bewusster Jude bin ich erst geworden, als Hitler an die Macht kam“, erzählte er Föderl-Schmid. „Aber mein Vater hat immer gesagt: ‚Ein Jud muss vorsichtig sein.’ Das hat mein ganzes Leben gegolten.“
„Das Sprichwort, ‚Zeit heilt Wunden’ gilt nicht für Auschwitz. Diese Wunde heilt nicht und wird eigentlich schlimmer, wenn man älter wird“
Eva Umlauf, Ausschwitz-Überlebende
Ein Jud muss vorsichtig sein. Genau das kommt in vielen Porträts in dem Buch zum Ausdruck. Wer dem Holocaust entronnen ist, kann nicht anders, als wachsam zu sein, zuzuhören, Stimmungen zu erfühlen. Da gibt dann etwa Harry Merl, 1934 in Wien geboren, der versteckt in einem Kohlenkeller überlebte und heute in Gramatstetten zu Hause ist, zu Protokoll: „In der EU sammeln sich die rechtsradikalen Kräfte. Der Antisemitismus macht mir Angst. Ein Holocaust ist jederzeit wieder möglich. Die, die schreien, sind auch bereit zu töten.“ Auch Danny Koeb, Jahrgang 1927, die Wien mit einem Kindertransport verlassen konnte und heute in Rishon LeZion lebt, meint: „Der Aufstieg der Rechten in Deutschland und Österreich ist schrecklich. Man weiß nicht, was das noch bringen wird.“
Beklemmend ist auch die Einschätzung von Charlotte Knobloch, Jahrgang 1932, die als „uneheliches Kind“ getarnt auf einem Bauernhof überlebte und seit 1985 Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München ist. „Was sich jetzt abspielt, ist mit dem Geschehen damals nicht zu verglichen. Aber es ist ein Hass auf jüdische Menschen da. Sie werden uns nicht umbringen, das nicht. Aber wir sind schon in die Ecke gestellt. Aber das spürt man nur, wenn man betroffen ist.“ Sie sehe keine rosigen Zeiten. „Ich hätte gerne gewusst, wie das läuft mit dem jüdischen Leben hier in zehn Jahren.“ Sorgen bereitet ihr vor allem der Aufstieg der AfD. „Wenn die AfD eine willige Mehrheitsregierung an der Seite hat, wird das jüdische Leben ausgelöscht, Wie kann dann ein gläubiger Jude noch hier leben? Im Parteiprogramm steht: Verbot des Schächtens, Verbot der Beschneidung, Verbot der finanziellen Zuschüsse. Man muss uns nicht umbringen, man kann es auch so machen.“
Die Wiener Ärztin Helga Feldner-Busztin macht sich nicht nur um Jüdinnen und Juden Sorgen. Sie kam 1929 in Wien zu Welt, überlebte das KZ Theresienstadt und konnte drei Mal einem Auschwitz-Transport entkommen. Sie verfolgt sehr kritisch, was die amtierende ÖVP-FPÖ-Regierung so tut. „Diesmal geht es nicht gegen die Juden, sondern gegen die Zuwanderer“, so ihr Befund. „Unfassbare Welten“ schildert spannende Lebensgeschichten, die ihren Anfang in einer furchtbaren Zeit machten. Hier kommen die letzten ZeugInnen noch einmal ausführlich zu Wort. Ein Buch wie ein Plädoyer gegen das Vergessen und für das Niemals wieder.
Alexandra Föderl-Schmid/Konrad Rufus Müller
Unfassbare Wunder
Wien/Köln/Weimar 2019
Böhlau Verlag
200 Seiten
36 Euro
ISBN 978-3-205-23226-1