Die Wirtschaftskrise und die Reformen führen dazu, dass in immer mehr europäische Ländern die Rechte der ArbeitnehmerInnen und der Gewerkschaften unter die Räder kommen.
„Grundlegende Arbeitsrechte sind nicht verhandelbar, auch nicht in Krisenzeiten.“ Mit dieser Mahnung ließ der damalige Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), Juan Somivia, in einer Rede vor dem EU-Parlament aufhorchen. Aus gutem Grund: denn seit Ausbruch der Finanzmarktkrise häufen sich in immer mehr EU-Ländern Belege für einen Rückbau gewerkschaftlicher Rechte.
Immer sichtbarer werden die tiefgreifenden sozialen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Seit 2007 sind die Arbeitslosenzahlen in der EU um mehr als 20 Prozent gestiegen. Fast 25 Mio. Menschen sind EU-weit heute ohne Arbeit. In mehreren Ländern beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent.
Dazu kommt, dass die europaweite Sparpolitik den Kontinent nachhaltig in eine Rezession zu stürzen droht. Trotzdem wird in hohem Maß am Kurs einer als alternativlos hingestellten Sparpolitik festgehalten. Zahlreiche politische EU-Initiativen durchzieht der rote Faden, dass die Beschäftigungs- und Sozialpolitik die Hauptlast bei der Anpassung tragen soll. Europaweit protestieren Gewerkschaften gegen diese Politik, die durch Rettung des Finanzsektors entstandene Schuldenkrise in erster Linie mit Sparpaketen und Kürzungsprogrammen zu bereinigen. Wenig überraschend, dass in vielen Ländern zunehmend auch die Rechte der Gewerkschaften selbst angegriffen werden.
Jagd auf Arbeitnehmerrechte
Ein aktueller Bericht des Europäischen Gewerkschaftsinstituts in Brüssel dokumentiert, dass unter dem Vorwand, das Arbeitsrecht zu ‚modernisieren‘ seit Beginn der Wirtschaftskrise Deregulierungsmaßnahmen vorgenommen wurden, die in einigen Ländern eine umfassende Überarbeitung – und Verschlechterung – des Arbeitsrechtes mit sich brachten.
Das reicht von drastischen Änderungen des Arbeitsrechtes, wie in Ungarn, Estland und der Slowakei, über Fälle, wo europäische und internationale Institutionen Ländern Strukturreformen aufgezwungen haben (Griechenland, Portugal und Spanien) bis hin zu ‚Missionen’, die der Internationale Währungsfonds IWF gemeinsam mit der EU in Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten sandte, wie etwa nach Lettland, um ‚erfolgreich‘ den Haushalt zu verhandeln.
Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaftsrechte
Vor allem in zahlreichen süd- und südosteuropäischen Ländern werden auch Änderungen der Verfahren der Arbeitsbeziehungen vorgenommen, die den sozialen Dialog und Kollektivvertragsverhandlungen erschweren und darauf gerichtet sind, die Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften empfindlich einzuschränken.
In etlichen Ländern ist eine Politik zur Dezentralisierung der Lohnverhandlungen festzustellen, einer Verlagerung von der nationalen bzw. Branchenebene auf die Unternehmensebene. Ein weiterer Trend ist eine Verschärfung der Kriterien, ab wann Gewerkschaften die Repräsentativität haben, Kollektivverträge abzuschließen.
Vereinzelt wird den Gewerkschaften das Vorrecht genommen, Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen zu führen, oft zugunsten alternativer Arbeitnehmervertretungsorgane. Es werden bewährte Institutionen des sozialen Dialogs substantiell geschwächt, oder die Regelungen über kollektive Arbeitskonflikte werden überarbeitet, um anstelle der Gerichte alternative ‚unverbindlichere‘ Streitschlichtungsmechanismen durchzusetzen.
Diese Eingriffe ins Arbeitsrecht schwächen in vielen Ländern die gewerkschaftliche Interessensvertretung: Sie greifen die Gewerkschaften in ihrer Struktur und ihren institutionellen Möglichkeiten an, Beschäftigte zu schützen und zu vertreten.
Demokratiepolitisch bedenklich
Dazu kommt, dass bei der Durchsetzung von ‚Reformen‘ in mehreren Ländern auf ‚Notfallverfahren‘ zurückgegriffen wurde, um Vereinbarungen mit den Sozialpartnern zu umgehen, so in Estland, Ungarn und der Slowakei. In Griechenland und Italien handelte die Regierung offen am Parlament vorbei. In Griechenland und Portugal mussten die nationalen Behörden internationale Vorgaben umsetzen, ohne Anhörung der Parlamente.
Für die europäischen Gewerkschaften und den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) verstoßen viele dieser Maßnahmen gegen Verpflichtungen der Länder nach den Normen und Standards der IAO und des Europarates. In einigen Ländern haben die Gewerkschaften daher nicht nur mit Demonstrationen oder dem Ausrufen eines Generalstreiks reagiert, sondern auch Klagen eingereicht: Die Gewerkschaften in Spanien, Griechenland, Ungarn und der Slowakei haben Beschwerde bei der IAO eingereicht, dass die Reformen der Kollektivvertragsverhandlungen gegen die Grundsätze der Gewerkschaftsfreiheit und freier Kollektivvertragsverhandlungen verstoßen.
Diese immer häufigeren Umgehungen der Einbindung der Gewerkschaften stellen zusammen mit der Schwächung der Rolle der Sozialpartner bei der Ausarbeitung sozialer Rechte unerträgliche Eingriffe auf Kosten der Demokratie in Europa dar.
„Die Achtung grundlegender Arbeitsrechte ist nicht verhandelbar, auch nicht in Krisenzeiten“ – diesen Satz ins Stammbuch jener Krisenlenker, die unverbesserlich neoliberalen Rezepten zum Durchbruch verhelfen und damit demokratische Standards in Europa aufs Spiel setzen!
Zur Nachlese – Download
Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten – eine Bestandaufnahme in Europa, ETUI Working Paper 2012 (in DE) sowie Länderstudien (in EN): blog.gpa-djp.at/ebr
Buchtipp
Europa am Scheideweg. Marktkonforme Demokratie oder demokratiekonformer Markt. Sepp Wall-Strasser et al. ÖGB Verlag 2012