Eine Verkürzung der Arbeitszeit ist der Wunsch vieler Beschäftigter. Arbeitszeitforscher Steffen Lehndorff zeigt die vielversprechendsten Modelle.
KOMPETENZ: Welche Themen brennen Ihnen als Arbeitszeitforscher derzeit am Meisten unter den Nägeln?
Lehndorff: Das große Thema unserer Zeit sind sinnvolle Modelle einer Arbeitszeitverkürzung und einer Anpassung der Arbeitszeiten an individuelle Bedürfnisse. Derzeit erleben wir eher, dass Vollzeitarbeitende ihre wöchentliche Arbeitszeit oft beträchtlich über das vereinbarte Ausmaß hin ausdehnen, um ihr Arbeitspensum zu erledigen. Und dass andererseits viele Frauen in die Teilzeitfalle getappt sind und gerne mehr arbeiten würden.
KOMPETENZ: Wie kann man da gegensteuern?
Lehndorff: Ein interessanter Ansatz ist das Modell der kurzen Vollzeit als Chance für alle. Zum Beispiel: Männer und Frauen mit kleinen Kindern arbeiten beide zwischen 28 und 32 Stunden. Aktuelle Studien in Deutschland belegen, dass fast die Hälfte aller Eltern mit Kindern unter sechs Jahren genau diese Konstellation bevorzugen würden, in der beide Partner annähernd gleich lange erwerbstätig sind. Dadurch verbessert sich für die Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und die Männer erleben eine stärkere Beteiligung an der Kinderbetreuung und der Haushaltsarbeit.
KOMPETENZ: Wie realistisch sehen Sie eine zeitnahe Umsetzung dieses Modells der Familienarbeitszeit in Österreich?
Lehndorff: Historisch gesehen waren die großen Auseinandersetzungen für eine Veränderung der Arbeitszeit stets gesellschaftspolitisch motiviert. Nun sehen wir in Österreich, ähnlich wie in Deutschland, eine wachsende Kluft zwischen der zunehmenden Vollzeitarbeit von Männern und steigender Teilzeitarbeit von Frauen. Befragungen in Deutschland zeigen, dass Männer mit Kindern lieber kürzer arbeiten wollen, Frauen in derselben Lebenssituation hingegen den Wunsch nach längeren Arbeitszeiten haben. Und auch in Österreich bestätigen aktuelle Umfragen, dass viele Vollzeitarbeitende den Wunsch nach einer Verkürzung ihrer Arbeitszeiten haben. Diese Chance müssen wir ergreifen. Für eine Veränderung müsste die „lange Vollzeit“, also Vollzeit mit zusätzlichen Überstunden, zu einem beständigen Konfliktthema gemacht werden.
KOMPETENZ: Welche Modelle der Arbeitszeitverkürzung gibt es noch?
Lehndorf: In Österreich hat sich die Freizeitoption als Instrument einer individuellen Arbeitszeitverkürzung etabliert. Immer mehr Menschen verzichten auf die Gehaltserhöhung und wählen stattdessen ein Mehr an Freizeit. Ich finde das auch für Deutschland ein anregendes Modell, denn die Freizeitoption gibt den Beschäftigten mehr individuelle Verfügungsgewalt über ihre Arbeitszeit. Die Entscheidung zur Gewichtung von Geld, Freizeit und Arbeitszeit liegt hier in einem kleinen Bereich direkt in den Händen der Beschäftigten und das ist goldrichtig.
KOMPETENZ: Wie kann man dieses Modell ausbauen?
Lehndorff: Der Erfolgslauf der Freizeitoption ist ein starkes Signal an die Betriebsräte, dieses Modell in ihren Unternehmen zu verhandeln und durchzusetzen. Hier zeigt sich für mich die zentrale Rolle der BelegschaftsvertreterInnen bei der Durchsetzung zeitgemäßer Arbeitszeitmodelle.
KOMPETENZ: Finden Sie es gut, dass die Arbeitszeitpolitik immer mehr auf die betriebliche Ebene verlagert wird?
Lehndorff: Zunächst muss die Freizeitoption von der Gewerkschaft in den jeweiligen Kollektivvertrag hineinverhandelt werden. Erst danach gibt es die Möglichkeit zur Umsetzung im Betrieb. Man muss aber realistisch sehen: Nachdem bis in die Achtzigerjahre die Gewerkschaften die Initiative in Sachen Arbeitszeitpolitik allein innehatten, ist diese Initiative nun an die Arbeitgeber und somit auf die betriebliche Ebene übergegangen. Viele Diskussionen über die Arbeitszeit spielen sich nicht mehr auf Branchenebene, sondern auf betrieblicher Ebene ab. Flexibilisierungen der Arbeitszeit werden oftmals nicht mehr über den Kollektivvertrag, sondern direkt im Betrieb geregelt. Ich sehe diese Entwicklung mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits ist es eine gefährliche Entwicklung, wenn langfristig eine massive Kräfteverlagerung von den Gewerkschaften hin zu den Betrieben stattfindet. Vieles lässt sich im Kollektiv besser verhandeln und alle gemeinsam sind die ArbeitnehmerInnen ohne Zweifel in einer stärkeren Verhandlungsposition als nur auf betrieblicher Ebene. Andererseits wird durch diesen Trend die Rolle des Betriebsrates gestärkt. In Deutschland ist der Betriebsrat mittlerweile die Hauptperson, wenn es um Verhandlungen zur Arbeitszeitpolitik geht. BelegschaftsvertreterInnen können und müssen auf betrieblicher Ebene ganz entscheidend dazu beitragen, dass die Verantwortung für die Arbeitsorganisation wieder dahin kommt, wo sie hingehört: zu den Arbeitgebern.
KOMPETENZ: Schieben die Arbeitgeber die Verantwortung für die Gestaltung der Arbeitszeit aktuell zu sehr ab?
Lehndorff: Wir haben einen Trend zur Schein-Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung, der vielerorts mit gelockerten Rahmenarbeitszeiten einhergeht. ArbeitnehmerInnen können heutzutage in manchen Branchen ihre Arbeitszeiten bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen. Diese sogenannte indirekte Steuerung seitens des Arbeitgebers ist aber tückisch. Denn Umfragen zeigen, dass jene ArbeitnehmerInnen, die ihre Arbeit selbst organisieren, im Schnitt deutlich länger arbeiten als im Kollektivvertrag vorgesehen.
KOMPETENZ: Wie kann man dieser Fehlentwicklung von gewerkschaftlicher Seite begegnen?
Lehndorff: Hinter diesem Arbeitszeitproblem steckt ein Organisationsproblem. Die Geschäftsführung teilt die vorhandene Arbeit auf zu wenig Personal auf. Auch die zur Erledigung der Aufgaben bemessene Zeit ist häufig zu kurz angesetzt. Hier kann durch kollektivvertragliche Vereinbarungen gegengesteuert werden, in denen die individuellen Rechte der Beschäftigten gestärkt werden.
Steffen Lehndorff arbeitet am Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg- Essen. Er ist seit über 20 Jahren in der Arbeits- und Arbeitszeitforschung tätig. Seine Interessenschwerpunkte konzentrieren sich auf die Veränderung der Arbeitszeit und Beschäftigungsstrukturen sowie auf die industriellen Beziehungen im internationalen Vergleich.