Die Soziologin Carina Altreiter forscht zum Thema Solidarität. Diese ist zwar im Abnehmen begriffen, dennoch stehen die Menschen in Österreich mehrheitlich zur sozialen Absicherung, sagt sie im Interview mit der KOMPETENZ.
KOMPETENZ: Wir erleben heute eine durch Teile der Politik betriebene Auseinanderdividierung verschiedener Gruppen der Gesellschaft. Da wäre zum einen die Unterteilung in die Fleißigen und die, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen. Da wäre aber auch die Unterteilung in die autochthonen Österreicher und die Zugewanderten, die vermeintlich nur kommen, weil sie ins hiesige Sozialsystem einwandern möchten. Gehen diese Spaltversuche auf?
Carina Altreiter: Jein. Es ist empirisch schwer zu sagen, wie politische Diskurse tatsächlich wirken. Was die Leute sagen und denken und tatsächlich tun, ist nicht eins zu eins Folge einer Indoktrinierung. Aber das, was in den letzten Jahrzehnten politisch betrieben worden ist, hat natürlich gesellschaftlich etwas verändert. Spaltung ist ein längerer Prozess, einer ihrer Bestandteile ist die kulturelle Entsolidarisierung.
KOMPETENZ: Was bedeutet das?
Carina Altreiter: Es gibt eine bestimmte Umdeutung dessen, was Sozialstaat heißt, was soziale Rechte sind, was soziale Sicherung anlangt. Das passiert im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche, aktuell im neoliberalen Umbau. Da gehört die Betonung des Rechts des Stärkeren dazu. Die Leistungsfähigen kann man mitnehmen, für alle anderen ist kein Platz mehr. Dazu kommt diese Inszenierung einer bestimmten Bedrohung von innen und von außen: Die einen, die nichts hackeln wollen, und die anderen, die zu uns kommen und uns alles wegnehmen. Plus eine generelle Abwertung des Sozialstaates und eine Umdeutung.
In seiner Entstehung war der Sozialstaat positiv behaftet, er war mit Schutz, mit Sicherung, mit Statuserhalt, mit Partizipation verbunden. Die Umdeutung bringt, dass der Sozialstaat nur mehr ein Problemfall ist, der zu hohe Kosten verursacht. Unterm Strich ist der Sozialstaat ein fragiles Verhältnis, das letztendlich auch Aushandlungsprozess unterschiedlicher politischer Kräfte ist. Wenn man es mit Marx sagen würde: ein Aushandlungsprozess zwischen Arbeit und Kapital.
„In seiner Entstehung war der Sozialstaat positiv behaftet, er war mit Schutz, mit Sicherung, mit Statuserhalt, mit Partizipation verbunden. Die Umdeutung bringt, dass der Sozialstaat nur mehr ein Problemfall ist, der zu hohe Kosten verursacht.“
Carina Altreiter, Soziologin
KOMPETENZ: Sie haben nun gesagt, diese Spaltung wird schon seit Jahrzehnten betrieben. Ist das, was wir unter der aktuellen ÖVP-FPÖ-Regierung erleben, also nur die Zuspitzung eines langen Prozesses? Wann setzte denn das Schlechtmachen des Sozialstaates ein?
Carina Altreiter: International gesehen, aus der Perspektive der westlichen Industrieländer, fing das mit der Thatcher-Reagan-Ära an. Der Neoliberalismus begann sich durchzusetzen, dieses Dogma von mehr privat, weniger Staat. In Österreich hat es sich aber nicht so dramatisch durchgeschlagen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und – bedingt durch die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie – haben manche Entwicklungen auch nur in abgeschwächter Form stattgefunden, wie die Privatisierungen, die erst in den 1990ern angefangen haben. Aber man muss auch sagen, dass diese Entwicklungen ambivalent sind. Es gibt Bereiche, in denen der Sozialstaat auch heute noch ausgebaut wird. Im Bereich der Kinderbetreuung wurde das Angebot beispielsweise erheblich vergrößert. Zu sagen, es ist ein lineares Abbauen, wäre daher eine zu verkürzte Analyse. Aber in bestimmten Bereichen ist es zu massiven Verschlechterungen gekommen – aktuelle Beispiele sind die Mindestsicherung/Sozialhilfe und die geplanten Änderungen beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe. Und das ist eine reine Symbolpolitik, weil es für das Budget gar nichts bringt. Aber für die Betroffenen sind es unglaubliche Einschnitte.
KOMPETENZ: Ihr Forschungsthema ist die Solidarität. Woran lässt sich hier ein Rückgang festmachen?
Carina Altreiter: In Bezug auf den Sozialstaat und was diese kulturelle Ebene angeht, kann man geschwächte Solidarität feststellen. Die Frage ist auch, inwiefern die Sozialpartnerschaft von Aushöhlung betroffen ist. Der 12-Stunden-Tag ist ein Beispiel, wie versucht wird, die Sozialpartnerschaft zu unterwandern. Dennoch, das zeigen mehrere Studien, ist in Österreich die Zustimmung zum Sozialstaat sehr hoch. Die Menschen finden die Absicherung wichtig und wissen das auch zu schätzen. Und es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass in Katastrophensituationen geholfen werden muss. Das ist das Bedarfsprinzip. In der aktuellen Diskussion vermischt es sich allerdings mit dem Leistungsprinzip, das in der Mitte der Gesellschaft sehr stark verankert ist. Ich strenge mich an, ich bemühe mich, dass soll anerkannt werden. Dieses legitime Gerechtigkeitsbedürfnis kann instrumentalisiert werden, um Ausgrenzung herbeizuführen.
KOMPETENZ: Was wäre hier ein konkretes Beispiel?
Carina Altreiter: Vielen ArbeitnehmerInnen ist Leistung wichtig, Leistung im Sinn des Bemühens. Aber dann machen Menschen die Erfahrung, dass ihr Job wenig wert ist, dass sie wenig verdienen. Und dann haben sie das Gefühl, da gibt es Leute, die sind arbeitslos und zu Hause und bekommen quasi das Gleiche. Das wird als ungerecht empfunden. Und natürlich kann ich diese Karte dann politisch spielen.
KOMPETENZ: Aber müsste man da nicht ohnehin bei höheren Mindestlöhnen ansetzen?
Carina Altreiter: Ja, aber es ist dann eben immer die Frage, wie es politisch abgefangen wird. Und im aktuellen politischen Diskurs wird als Lösung die Kürzung der Sozialhilfe angeboten.
KOMPETENZ: Man dividiert also lieber Gruppen auseinander anstatt zu überlegen, wie jeder gut von seiner Erwerbsarbeit leben kann.
Carina Altreiter: Ja. Wobei der steigende Druck in der Arbeitswelt auch verschiedene Gruppen produziert. Die, deren Situation immer prekärer wird, aber auch die, die noch einigermaßen abgesicherte Positionen haben und sich dem starken Druck der Wirtschaft anpassen. Diese Unterordnung wird dann auch von anderen verlangt. Da kann man dann sehr autoritäre Reaktionen gegenüber Menschen beobachten, von denen geglaubt wird, dass sie sich diesen Anforderungen entziehen, wie zum Beispiel Arbeitslose. Diese starken Aggressionen sind in schlecht verdienenden Gruppen weniger zu beobachten. Das Leistungsprinzip ist in den verschiedenen sozialen Gruppen sehr unterschiedlich verankert. Wichtig ist zu sehen, dass der Rechtspopulismus funktioniert, weil er in vielen Schichten andocken kann – auch in den mittleren und oberen. Rechte Politik findet viele Anknüpfungspunkte. Es gibt aber in allen Gruppen auch andere Ankerpunkte, in denen sich auch eine andere Politik einhängen könnte.
Carina Altreiter
Geb. 1985 in Linz, ist Soziologin am Institut für Soziologie der Universität Wien und arbeitet aktuell im Projekt „Solidarität in Zeiten der Krise. Sozio-ökonomischer Wandel und politische Orientierungen in Österreich und Ungarn“, das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert wird.
Ein Buchbeitrag von Carina Altreiter findet sich auch im Buch „Umbrüche Umdenken“