Die renommierte deutsche Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann plädiert im Interview mit der KOMPETENZ für einen starken Staat als „Blasebalg“.
KOMPETENZ: Stellt die Corona-Pandemie unseren kapitalistischen Lebensstil in Frage?
Ulrike Herrmann: Der Kapitalismus ist globalisiert und zudem darauf angewiesen, dass permanent produziert wird, so dass es keine Stockung in den Lieferketten gibt – beides findet im Augenblick nicht statt. Trotzdem werden wir auch nach Corona eine globalisierte Wirtschaft haben. Denn die Globalisierung macht die Produktion am billigsten. Bei fast allen Gütern und Dienstleistungen zählen die sogenannten Skalenerträge: Je mehr man herstellt, desto billiger wird es pro Stück. Also werden wir weiterhin sehr große Fabriken haben, die dann einen großen Weltmarkt beliefern müssen, damit sich diese großen Fabriken überhaupt rechnen.
KOMPETENZ: In Österreich werden Billigarbeitskräfte wie ErntehelferInnen aus der Ukraine und PflegerInnen aus Rumänien angekarrt, weil sie offenbar kostengünstiger sind. Finden Sie das vertretbar?
Ulrike Herrmann: Egal, ob die Arbeitskräfte aus der Ukraine oder aus Österreich kommen – entscheidend ist, wie viel sie verdienen. Bei der Ernte und in der Pflege muss der österreichische Mindestlohn gezahlt werden und eigentlich mehr. Dann spricht nichts dagegen, dass Menschen aus dem Ausland hier arbeiten. Wenn aber die Pflegekräfte aus Osteuropa ausgebeutet werden, ist das ein Skandal. Wenn man sie ordentlich bezahlt und sie anwirbt, um etwa die Lücke bei den Pflegekräften zu füllen, dann ist das tendenziell in Ordnung.
KOMPETENZ: Durch die Corona-Krise sind Armut und Arbeitslosigkeit deutlich gestiegen, viele Unternehmen werden vermutlich nicht überleben, speziell Ein-Personen-Unternehmen wünschen sich in Österreich wesentlich mehr staatliche Unterstützung. Was wäre jetzt aus sozio-ökonomischer Sicht zu tun, ist die diskutierte Steuersenkung ein richtiger Weg?
Ulrike Herrmann: Aus meiner Sicht wäre die richtige Strategie, alle Unternehmen und Beschäftigten durch die Krise zu schleppen.
KOMPETENZ: Durch staatliche Unterstützung?
Ulrike Herrmann: Ja. Jetzt ist es der falsche Moment, um als Staat zu sparen. Man müsste versuchen, alle Unternehmen – ob Restaurants, KünstlerInnen oder Großunternehmen – und eben alle Beschäftigten möglichst ohne große Verluste durch die Krise zu tragen. Dazu muss sich der Staat stark verschulden. Das ist an sich kein Problem. Länder wie Österreich oder Deutschland können im Augenblick fast beliebig viele Schulden aufnehmen: Die Zinsen sind bei null, und eine Inflation droht nicht – da kann man Geld ausschütten. Wenn man hingegen in einzelnen Branchen sparen würde, hätte man anschließend das Problem, dass die Nachfrage fehlt. Oder dass Firmen und Solo-Selbstständige damit beschäftigt sind, die Notkredite zu bezahlen, die sie aufnehmen mussten, so dass sie nicht neu investieren können. Das alles behindert den Aufschwung.
„Die Schulden, die ein Staat jetzt macht, um die Corona-Krise zu bewältigen, kann man nicht zurückzahlen.“
Ulrike Herrmann
KOMPETENZ: Wie soll der Staat langfristig helfen, soll es Ihrer Meinung nach etwa Verstaatlichungen geben?
Ulrike Herrmann: Ich bin keine Freundin von Verstaatlichungen. Ich hielte es für eine schlechte Idee, die Produktion von Konsumgütern zu verstaatlichen; es gäbe keinen Grund, warum Österreich zum Beispiel die Auto-Zulieferindustrie verstaatlichen sollte. In Ost-Deutschland haben wir damit sehr schlechte Erfahrungen gemacht, in der DDR waren ja sogar die Imbissbuden staatlich. Das funktioniert nicht. Der Staat kann nur die Bereiche sinnvoll betreiben, wo die private Lösung eine schlechtere wäre. Dies gilt für die sogenannten „natürlichen Monopole“, wo es am billigsten ist, nur ein Netz zu haben, also bei der Eisenbahn, Elektrizität oder Wasserleitung. Oder auch für Branchen, wo die KundInnen erpressbar sind, bei Wohnungen und ganz besonders bei der Gesundheit. Gesundheit ist das Wichtigste, das der Mensch hat. Die Menschen würden alles dafür ausgeben, um wieder gesund zu werden. Deshalb gibt es die staatliche Honorarverordnung für ÄrztInnen und die Pharmaindustrie, damit die Menschen nicht ausgeplündert werden. Ähnliches gilt für die Pflege: Hier kann es auch keinen Markt geben, sondern der Staat müsste dafür sorgen, dass die Alten angemessen versorgt werden. Private Pflegedienste lehne ich ab.
KOMPETENZ: In Diskussion ist derzeit vielerorts eine Vermögenssteuer. Wie stehen Sie dazu?
Ulrike Herrmann: Man muss das auseinanderhalten. Die Schulden, die ein Staat jetzt macht, um die Corona-Krise zu bewältigen, kann man nicht zurückzahlen. Dies ist kein Problem, weil die Zinsen fast bei null sind. Man darf jetzt nicht Steuern fordern nach dem Motto, „damit zahlen wir die Schulden zurück“. So würde man die Wirtschaft wieder abwürgen, weil Nachfrage fehlen würde. Wenn man aber, sobald Corona vorbei ist, den Staat angemessen finanzieren möchte, ist ganz klar, dass die Reichen mehr zahlen müssen. Sowohl in Österreich wie in Deutschland zahlen Reiche relativ zu ihrem Einkommen besonders wenig – das ist absurd.
KOMPETENZ: Beide Länder sind Verfechter eines staatlichen Null-Defizits. Ist das ein Denkfehler?
Ulrike Herrmann: Man kann die Staatsschulden nicht so betrachten, als wäre der Staat eine Firma. Die Idee der schwarzen Null ist, dass man sagt, Familien oder Betriebe dürfen sich auch nicht verschulden, also darf der Staat das ebenfalls nicht. Das ist der zentrale Denkfehler, weil der Staat keine Familie und kein Betrieb ist. Sondern er ist das Gegenüber, das in dieser Situation die Wirtschaft stabilisieren muss. Deswegen muss er wie ein Blasebalg arbeiten: Wenn die Wirtschaft sehr gut läuft und überhitzt, darf der Staat keine Schulden machen – das wäre ja ein Wahnsinn, wenn noch zusätzliche Nachfrage erzeugt würde. Wenn man aber tendenziell in der Krise sitzt und die Kapazitäten nicht ausgenützt sind, muss der Staat Schulden machen. Seit der Euro-Krise 2010 war Europa ständig asthmatisch und wirtschaftsschwach. In dieser Zeit hätte man Schulden machen müssen, stattdessen hat man die schwarze Null beschlossen. Das war totaler Unsinn.
KOMPETENZ: Das deutsche Höchstgericht hat jüngst dem EU-Höchstgericht widersprochen und kritisiert, dass die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen kauft, ohne dies angemessen zu begründen. Sie haben das heftig kritisiert und befürworten Corona-Bonds, warum?
Ulrike Herrmann: Die Corona-Bonds wären Papiere, die von der Eurozone oder der EU gemeinsam ausgegeben würden, dahinter würde die gesamte Wirtschaftskraft der Eurozone oder der EU stehen. Es würde dafür kein Steuergeld fließen, wie das in Deutschland oder Österreich oft befürchtet wird. Sondern die Zinsen für diese Papiere wären sehr niedrig – auch in Italien und Spanien, so dass diese beiden Länder von einem Privileg profitieren, das Österreich und Deutschland ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Endlich würden gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Wenn man nämlich zulässt, dass es innerhalb der Währungsunion so hohe Zinsunterschiede gibt, sprengt man den Euro von innen.