Mit Teamgeist und Urlaubssperren durch die Krise

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Fehlende Schutzausrüstung, geschlossene Grenzen und verunsicherte BewohnerInnen: Für die Beschäftigten im Kolpinghaus in Wien-Favoriten waren die vergangenen Monate keine leichten. Wenigstens wurde geklatscht.

„Das Arbeits- und Sozialgericht wird in den nächsten Monaten und Jahren einiges aufzuarbeiten haben“, schätzt Jürgen Schamberger. Der 37-jährige ist seit 2006 Betriebsratsvorsitzender im Kolpinghaus „Gemeinsam leben“ in Wien-Favoriten. In den knapp eineinhalb Jahrzehnten hat Schamberger so einiges erlebt, „aber in dieser Krise ist vieles passiert, von dem ich nie geglaubt hätte, dass das möglich ist.“

198 Menschen leben im Kolpinghaus in stationärer Pflege, hinzu kommen 50 Wohnplätze für Mütter und Kinder sowie 33 Plätze für betreutes Wohnen. „Ab 4 Mai: Besuche wieder möglich“, heißt es in roten Buchstaben am Eingang des Kolpinghauses in der Maria-Rekker-Gasse 9. Und gleich darunter: „Es gelten jedoch strenge Regeln“. Bis es einmal so weit war, war es ein weiter Weg. Von 13. März bis 4. Mai galt hier im Haus ein Besuchsverbot, mit Ausnahme der PalliativpatientInnen durfte niemand im Haus Angehörige empfangen. Eine Herausforderung für BewohnerInnen, Angehörige – und MitarbeiterInnen.

Plötzlich war alles anders

Der Ausbruch der Corona-Pandemie stellte das Leben im Kolpinghaus auf den Kopf. „Anfangs haben wir vieles aus den Medien erfahren und selbst nicht gewusst, wie wir damit umgehen sollten“, erzählt Schamberger beim Besuch in seinem Büro. Anrufe der Angehörigen häuften sich: „Was ist da los?“. Auch die rund 220 Angestellten waren nervös: „Was, wenn ich selbst infiziert bin?“ „Für die Bewohnerinnen und Bewohner war von einem Tag auf den anderen plötzlich alles anders“, erklärt Schamberger. Kein Besuch mehr, keine Gruppenaktivitäten, kein gemeinsames Essen im Speisesaal, kein Kontakt zu anderen BewohnerInnen. Das habe vielfach Ängste, auch Depressionen, bei den Betroffenen ausgelöst.

Hinzu kam, dass man auf so eine Situation nur unzureichend vorbereitet war. „Denn bei uns hat anfangs alles gefehlt“, erzählt der Betriebsrat. Teilweise hätten PflegerInnen einen ganzen Tag lang dieselbe Maske getragen, einfach weil nicht mehr auf Lager waren – und es auch am Markt keine zu kaufen gab. „Hätte es wirklich Infektionsfälle im Haus gegeben, wären wir mit unserer Schutzausrüstung nicht lange ausgekommen“, meint Schamberger.

„Ich schleiche mich nicht ins Home-Office, verstecke mich nicht daheim“

Jürgen Schamberger

Es blieb bei einigen Verdachtsfällen. An den ersten Verdacht kann sich Schamberger noch genau erinnern. „Das war ein sehr intensives Erlebnis.“ Schamberger, als Betriebsratsvorsitzender eigentlich freigestellt, entschloss sich daraufhin, wieder in die Pflege zurückzukehren. Rund sieben Wochen half er beim betreuten Wohnen mit aus. „Mir war wichtig“, erklärt er, „ein Zeichen zu setzen, ein Signal für Kolleginnen und Kollegen, um ihnen die Angst etwas zu nehmen: Ich schleiche mich nicht ins Home-Office, verstecke mich nicht daheim, sondern ich bin bei euch. Wir machen das gemeinsam.“

Nun beginnt die Aufarbeitung

Seit Anfang Mai ist der 37-Jährige wieder freigestellt. Und beginnt vermutete arbeitsrechtliche Verstöße aufzuarbeiten, die in den Turbulenzen der letzten Wochen und Monate untergingen. Dabei geht es um gängige Sachen, wie um die Frage, ob Überstunden auch korrekt verrechnet wurden. Und um kniffligere Fälle, wie jene seiner 22 KollegInnen aus der Slowakei. Viele von ihnen sind PendlerInnen und standen vor einem Problem, als am 13. März plötzlich die Grenzen geschlossen wurden. Sie durften die Grenze zwar passieren, hätten sich aber zurück in der Slowakei 14 Tage in Heimquarantäne begeben müssen. Das stellte auch das Kolpinghaus vor Herausforderungen, denn plötzlich fielen rund ein Dutzend PflegerInnen weg, die meisten von ihnen diplomiert, also nicht ohne Weiteres zu ersetzen. Innerbetrieblich konnte man das kompensieren, meint Schamberger, mit viel „Teamgeist“ – und Urlaubssperren. Für die slowakischen PflegerInnen bedeuten zwei Wochen Quarantäne zwei Wochen ausgefallene Arbeitszeit. Aber wer bezahlt dafür? „Für mich ist das eine Dienstverhinderung“, stellt Schamberger klar. Doch Geld aus dem Quarantänefonds gebe es dafür nicht.

„Hätte es wirklich Infektionsfälle im Haus gegeben, wären wir mit unserer Schutzausrüstung nicht lange ausgekommen.“

Jürgen Schamberger

Für den Betriebsrat Schamberger waren März und April herausfordernde Zeiten. Von einem Tag auf den anderen wurden Überstunden und Ruhezeitverletzungen möglich. „Und als Betriebsrat hatte ich nicht viele Möglichkeiten, das zu kontrollieren, denn es war in diesem Fall rechtens, weil das Arbeitszeitgesetz entsprechend geändert wurde.“ Laut Schamberger werden solche und ähnliche Fälle wohl demnächst vor dem Arbeits- und Sozialgericht landen.

Wenn der Applaus verhallt…

Ohne das Arbeits- und Sozialgericht würde wohl auch er selbst nicht mehr in der Maria-Rekker-Gasse arbeiten. Der Oberösterreicher war 2004 nach Wien gekommen und sollte 2006 den scheidenden Betriebsratsvorsitzenden im Kolpinghaus ablösen. „Ich habe dann angefangen, meine Leute zusammen zu suchen und die Wahl zum Wahlvorstand einzuleiten. Am Tag der Wahl, ich kam gerade vom Nachtdienst, bekam ich die Kündigung“. Offiziell eine unbegründete Kündigung. „Das habe ich mir nicht gefallen lassen.“ Die Wahlen ließ er trotzdem abhalten, zog vors Arbeits- und Sozialgericht und bekam nach sechs Monaten die Bestätigung: Die Kündigung enthält einen Formfehler und ist damit nichtig. Kurz darauf wechselte die Geschäftsführung, das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Leitung sei seither deutlich harmonischer.

Im Kolpinghaus in Wien-Favoriten kehrt langsam wieder Normalität ein. In einem eigens eingerichteten BesucherInnenzentrum dürfen BewohnerInnen ihre Angehörigen empfangen. Für die Beschäftigten im Haus waren diese außergewöhnlichen Wochen auch auf eine andere Weise außergewöhnlich: Erstmals wurde man in der breiten Masse als „systemrelevant“ wahrgenommen; eine Zuschreibung, mit der bis dato nur Banken und milliardenschwere Großkonzerne bedacht wurden. „Das hat vielen gut getan“, erzählt Schamberger. Plötzlich waren sie es, die beklatscht wurden, im Fokus der Öffentlichkeit standen. „Umso deprimierender und ernüchternder, dass jetzt, da der Jubel weg ist, die finanzielle Wertschätzung nicht kommt, dass das jetzt schon wieder alles vergessen ist“.

Zur Person:

Jürgen Schamberger, 37, ist in Oberösterreich, Bezirk Braunau, geboren. Nachdem er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann abgebrochen hatte, machte er eine Ausbildung zum Pflegehelfer
und Altenfachbetreuer. Seit 2004 lebt er in Wien und arbeitet im Kolpinghaus in Favoriten. Seit 2006 ist er Betriebsratsvorsitzender.

Scroll to top