„Die großen Probleme kommen erst auf uns zu“

Foto: Nurith Wagner-Strauss

Die ab Oktober geplanten Kollektivvertragsverhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite dürften noch herausfordernder als bisher werden, rechnet Betriebsrätin Roswitha Wiesinger.

Das gilt wohl nicht nur für die große Branche des Handels. Zentrales Anliegen ist ihr in der „momentan sehr neoliberal geprägten Gesellschaft“ ein Ausgleich der Interessen.

Ist es im 21. Jahrhundert überhaupt sexy, Betriebsrat oder Betriebsrätin zu sein? Zwischen Freude, Gleichgültigkeit, Skepsis und Unterstützung schwankten die Reaktionen im privaten wie beruflichen Umfeld von Roswitha Wiesinger, als sie sich zu dieser ihrer neuen Aufgabe entschloss. „Eine Betriebsratstätigkeit ist auch immer eine politische“, sagt sie im Interview mit der KOMPETENZ so zutreffend wie zurückhaltend.

Seit 2011 arbeitet Wiesinger für den niederländisch-britischen Unilever-Konzern, der in der Österreich-Niederlassung im städtebaulich neuen „Viertel Zwei“ von Wien Leopoldstadt Lebensmittel, Körperpflege- sowie Haushalts- und Reinigungsprodukte vertreibt. „Ich habe davor nie in einem Unternehmen mit Betriebsrat gearbeitet.“ Da ihre Vorgängerin am neuen Arbeitsplatz Betriebsrätin war, wurde sie gefragt, ob sie das nicht auch machen wolle. Sie konnte sich in ihrem neuen Job eine zusätzliche Aufgabe gut vorstellen, erzählt sie, und begann als Ersatz-Betriebsrätin, rückte relativ schnell in den aktiven Betriebsrat nach. Vor drei Jahren stieg Roswitha Wiesinger zur neuen Vorsitzenden des Betriebsrates auf und ist jetzt Arbeitnehmervertreterin für knapp 200 Außen- und InnendienstmitarbeiterInnen.

Keine Pausen für den Betriebsrat

„Eine sehr, sehr spannende Tätigkeit“, die zu übernehmen sich Wiesinger wohl überlegt hat, wie sie betont. „Wir sind ein Konzern und haben viele globale Vorgaben, da gibt es schlichtweg keine Pause. Nicht nur für den Betriebsrat, sondern für alle Beschäftigten: Wir sind laufend mit Maßnahmen konfrontiert, auf die wir uns immer wieder neu einstellen müssen. Betriebsrätin zu sein nimmt nicht nur, sondern gibt auch sehr viel Kraft, gesteht sie. Wenn sie etwa KollegInnen auf ihrem Weg begleiten und bei verschiedensten Fragestellungen helfen kann. Was sie antreibt, ist ihr Gerechtigkeitssinn.

Betriebsrätin zu sein nimmt nicht nur, sondern gibt auch sehr viel Kraft.“

Roswitha Wiesinger

Am schwierigsten zu handeln seien „Umstrukturierungen“, die oft Kürzungen mit sich bringen, „wo wir wissen, wir können nicht alle Arbeitsplätze erhalten“. Im Corona bedingten Lockdown kamen die drängendsten Fragen zu Kinderbetreuung und Urlaub, AußendienstmitarbeiterInnen wiederum waren aufgrund des KundInnenkontakts in Sorge und dass die Warenbestückung, auch für den alltäglichen Bedarf, trotzdem funktioniert. In Konzernen wie Unilever war die arbeitstechnische Pandemie-Unterbrechung gut organisiert (Laptops etc.) und Umstellung auf Heimarbeit rasch möglich. Gesundheit war im Vordergrund, Kurzarbeit kein Thema.

Homeoffice bleibt auch weiterhin Thema

„Die großen Probleme kommen erst auf uns zu“, meint Roswitha Wiesinger ganz Arbeitnehmervertreterin. „Das Thema Homeoffice wird uns erhalten bleiben.“ Dass in Corona-Zeiten viele Beschäftigte von zu Hause zuarbeiten, sei Neuland und brauche zusätzliche arbeitsrechtliche Sicherungsmaßnahmen. „Homeoffice sehen viele KollegInnen positiv: Man spart sich viel Wegzeit. Andererseits findet auch eine Entgrenzung statt. Viele Fragen sind noch offen, beispielsweise ist die Unfallversicherung bis Jahresende geregelt – was danach kommt, wissen wir noch nicht.“ Zudem müsse ein guter Ausgleich geschaffen werden zwischen der Präsenz im Büro und dem Zu-Hause-Arbeiten – „das ist wichtig für das Teamgefüge, für neue MitarbeiterInnen und auch für die persönliche Entwicklung.“

Kollektivvertragsverhandlungen

Bemerkenswert ist laut Roswitha Wiesinger der durch das weltweit grassierende Virus ausgelöste Digitalisierungsschub in der Arbeitswelt. Wiewohl etliche Unternehmen – und auch Schulen – erst nachrüsten mussten und müssen. „Teilweise ist festzustellen, dass Projekte schneller umgesetzt werden, etwa was neue Programme betrifft oder die Automatisierung in Abläufen. Hier ist eine Beschleunigung zu beobachten in vielen Konzernen.“

Klar ist, dass für die ArbeitnehmervertreterInnen die nächsten Kollektivvertragsverhandlungen im Zeichen der Corona-Krise stehen werden. Roswitha Wiesinger ist Teil des Verhandlungsteams zum Kollektivvertrag (KV) für den Handel. Sie rechnet auf jeden Fall damit, dass die ab Oktober geplanten Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite noch herausfordernder werden, als das bisher der Fall war. „Speziell, und das sieht jeder, im Handel sind ja die Auswirkungen sehr unterschiedlich: Der Lebensmittelhandel hat mit Sicherheit profitiert von der Situation, im Textilhandel ist es definitiv anders.“

„Für mich ist wichtig, dass die Kaufkraft erhalten und gestärkt wird.

Roswitha Wiesinger

Die konkreten Forderungen werden im Bundesausschuss beraten und besprochen – das ist keine Entscheidung von einzelnen. „Für mich ist wichtig, dass die Kaufkraft erhalten und gestärkt wird. Davon profitieren ja nicht nur die Handelsangestellten, und das ist eine große Branche, sondern die Wirtschaft insgesamt. Was wir im Handel verdienen, geben wir dann auch aus. Würde man uns das verweigern, würde sich das auf die Branche selbst auswirken“, erklärt Wiesinger.

Bisher gab es seit Ausbruch der Corona-Krise lediglich Einmalzahlungen im Einzelhandel, die von den Unternehmen selbst festgelegt wurden. Was nach wie vor im Gespräch ist und als Forderung an die Bundesregierung vorgebracht wird, ist der Corona-Tausender für die so genannten systemrelevanten Berufe. Möglich, dass diese Frage auch in die KV-Verhandlungen einfließt. Nimmt die Kaufkraft ab, verstärkt sich die Gefahr einer Rezession noch mehr. Daten belegen bereits, dass speziell die Lebensmittelpreise seit der Corona-Krise gestiegen sind. Und die Nahrungsmittel wollen weiterhin ge- und verkauft werden.

„Gerade in der jetzigen Zeit brauchen wir diesen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, weil wir halt momentan in einer sehr neoliberal geprägten Gesellschaft leben.“ Umso wichtiger seien ArbeitnehmervertreterInnen, um schon im Vorfeld eine Balance herzustellen. Schließlich ist es eine Tatsache, dass die Arbeitgeber nicht ohne ihre Arbeitnehmer können – und umgekehrt genauso.

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