Die Probleme seiner KollegInnen liegen Martin Witting am Herzen. Er engagiert sich für sie auf nationaler und internationaler Ebene. Mit der Zeit musste er aber lernen einen Teil seiner Arbeit zu delegieren.
Eigentlich dachte Martin Witting nicht daran Betriebsrat zu werden, doch im Jahr 2000 wurde er innerhalb von wenigen Wochen zum stellvertretenden Vorsitzenden von Tirol gewählt. Er war damals Sachbearbeiter im Innendienst der Generali und beurteilte KFZ-Schäden. Immer wieder fiel ihm sein Kollege auf, der Rechnungen zu überweisen hatte – es türmten sich riesige Stapel nicht erledigter Schadensfälle, in denen er regelrecht unterzugehen schien. Und das, obwohl der Kollege fleißig arbeitete. Witting half ihm, den Stoß abzuarbeiten – nur um zu sehen, wie er sich wieder aufhäufte. Der gebürtige Tiroler – er stammt aus der Gemeinde Zirl, rund 12 Kilometer von Innsbruck entfernt – regte daraufhin beim Personalchef an, die Arbeit doch anders und gerechter zu verteilen. Danach sprach ihn der Betriebsrats-Vorsitzende an: „Wenn du schon meine Arbeit machst, dann kandidiere doch für unsere Betriebsratsliste“. Mit Erfolg, Witting avancierte gleich zum stellvertretenden Vorsitzenden. Heute ist der 52-Jährige Zentralbetriebsratsvorsitzender der Generali.
„Als eng verflochtenes und harmonisch agierendes Team, können wir als starke Vertreter der Kolleginnen und Kollegen der Generali gegenüber dem Management auftreten“
Martin Witting
Gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Swetly (Vorsitzender der Generaldirektion, Vorsitzender der Konzernvertretung und Stv. Vorsitzender im Zentralbetriebsrat) hat Martin Witting (Vorsitzender für Tirol und Vorarlberg, Stv. Vorsitzender in der Konzernvertretung und Vorsitzender im Zentralbetriebsrat) die „Betriebsrat-Marke M+M“ (Martin + Martin) geschaffen. „Als eng verflochtenes und harmonisch agierendes Team, können wir als starke Vertreter der Kolleginnen und Kollegen der Generali gegenüber dem Management auftreten“, merkt Witting an.
Daneben übt er noch weitere Ämter aus: Witting ist Stellvertreter des österreichischen Mitgliedes im Engeren Ausschuss des Europäischen Betriebsrat der Generali – hier werden rund 65.000 Beschäftigte vertreten. Dazu fungiert der Tiroler im Bundesvorstand der GPA als Landesvorsitzender für Tirol, und vertritt zudem als Wirtschaftsbereichsvorsitzender der Sparte Versicherung die ArbeitnehmerInnen bei den Kollektivvertragsverhandlungen in Wien. Hier trifft er dann durchaus bekannte Gesichter. „Der gleiche Manager, der mir im Betrieb erklärt, dass die Kosten gesenkt werden müssen, hat dann wenig Freude, wenn wir bei den KV-Verhandlungen im Februar eine Lohnerhöhung fordern“, erklärt Witting. „Wir wissen, dass uns die Versicherungen jedes Jahr erklären wollen, dass es ein ausnahmsweise gutes Jahr war – da wir aber als ArbeitnehmerInnen-Vertreter auch im Aufsichtsrat sitzen und die Zahlen kennen, können wir das stark hinterfragen.“
Europäischer Betriebsrat tagt
Die Generali hat ihren Hauptsitz in Triest, dorthin wird auch der europäische Betriebsrat eingeladen. Einmal im Jahr präsentiert das Management einen Bericht zur Lage des Unternehmens, danach stehen der Group CEO und die Personalchefin einen Tag für Fragen und Antworten zu Verfügung. „Die Diskussion ist meist sehr spannend, hängt aber freilich auch davon ab, wie weit die Manager auf die Themen eingehen wollen“, erklärt Witting.
„In einigen osteuropäischen Staaten herrscht eine Hire-and-Fire-Methode – einen Kündigungsschutz, wie wir ihn von Deutschland, Österreich oder Italien kennen, gibt es dort nicht.“
Martin Witting
Ein Ziel des Europäischen Betriebsrats ist es, die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Generali anzugleichen. „Das Management antwortet darauf gerne, dass es in die Autonomie der einzelnen Landesorganisationen nicht eingreifen kann”, erklärt Witting. „Es gibt leider kein Interesse daran, die Sozialstandards überall auf Westeuropäisches Niveau anzuheben.“ Doch die Probleme sind schon auf anderer Ebene heftig: Insbesondere in unserem Nachbarland Ungarn wird die Betriebsratsarbeit extrem schwer gemacht. Nach dortiger Rechtslage dürfen sich etwa auch die ungarischen Delegierten des Europäischen Betriebsrats nur in ihrer Freizeit engagieren. Ein Spesen- und Kostenersatz ist für sie nicht vorgesehen. Nach Intervention des Europa-Betriebsrats, hat die Zentrale in Triest das Management in Ungarn angewiesen, die Tagungszeit freizugeben und Spesenersatz zu leisten. „Ansonsten hält sich die Zentrale bei solchen Sachen eher zurück”, weiß das Mitglied im Betriebsrat und beklagt: „In einigen osteuropäischen Staaten herrscht eine Hire-and-Fire-Methode – einen Kündigungsschutz, wie wir ihn von Deutschland, Österreich oder Italien kennen, gibt es dort nicht.“ Dagegen kann die Zentrale durchaus Druck auf die Österreichischen MitarbeiterInnen ausüben aber die Betriebsräte halten dagegen „Wenn von Italien Kostenziele vorgeschrieben werden, die völlig unrealistisch sind, fragen wir den CEO, ob ein zweites Kitzbühel veranstaltet werden soll.“
Gegen Stellenabbau gewehrt
„Kitzbühel“ steht für eine erfolgreiche Aktion, 2006 wehrte sich die Belegschaft, gegen die von oben diktierten Maßnahmen. Damals wollte der frisch ernannte Generaldirektor Karl Stoss die Generali Österreich umstrukturieren und zentralisieren. 390 Arbeitsplätze wollte er abbauen. Mit Hilfe des ÖGB und der GPA besuchten daraufhin 700 ArbeitnehmerInnen das Tennistunier in Kitzbühel, dass von Generali gesponsert wird und als „Generali Open“ bekannt ist. Die MitarbeiterInnen, sie reisten per Bus an, blockierten zum Auftakt für 30 Minuten die Pass-Thurn-Straße. „Weil wir ja ein- und aussteigen mussten“ amüsiert sich Witting noch heute. „Die Turnier-Veranstalter waren bemüht, nur ja keine Brösel aufkommen zu lassen”. Die „Brösel“ gab es freilich doch: die Medien berichteten über die friedliche Kundgebung auf Court 2 fast genauso ausführlich wie über das Semifinalspiel auf Court 1. Nach einer weiteren Demonstration in Triest (mit italienischer Unterstützung) und einer Postkarten-Aktion unter dem Motto: „Gleiche Rechte für alle Generali-Beschäftigten“ wurden im Jänner 2007 die Kündigungen zurückgezogen, und sogar eine Beschäftigungsgarantie ausgesprochen.
Es gibt immer wieder Meinungsverschiedenheiten mit dem lokalen Management-auch in letzter Zeit: „Nachdem die Generali die SK Versicherung gekauft hatte, wollte das Management anfangs die 28 MitarbeiterInnen nicht übernehmen“ erklärt Witting. Dabei sind in Österreich etwa 4500 Menschen bei der Generali angestellt. Durchschnittlich verlassen zwei bis drei Prozent der Beschäftigten die Belegschaft pro Jahr, allein dadurch gab es genug Stellen für die SK-Leute.
Gemeinsam stärker
Seit 2008 ist Martin Witting Zentral-Betriebsrats-Vorsitzender. Die Betriebsratstätigkeit ist ein freiwilliges Amt, in der Arbeitsverfassung wird dieser Job als Ehrenamt bezeichnet. „Es gibt keine Extra-Bezahlung dafür, ich bekomme das Gehalt, wie ich es auch vor meiner Freistellung bezogen habe“, erklärt der Zentralbetriebsratsvorsitzende. Und er erinnert sich an eine wenig gesunde Phase seines Lebens: „Ich bin durch den Arlberg-Tunnel gefahren und habe gedacht, ich schlafe jetzt auf der Stelle ein“. Glücklicherweise hielt Witting bei der ersten Möglichkeit an und gönnte sich einen Powernap. Er stand kurz vor dem Burnout: „Das passiert genau dann, wenn der Körper die Gefolgschaft verweigert“.
„Ich bin durch den Arlberg-Tunnel gefahren und habe gedacht, ich schlafe jetzt auf der Stelle ein“.
Martin Witting
So wurde in der Folge die Arbeit reorganisiert. Kam früher eine Anfrage an den Betriebsrat, wurde sie einfach gleich an Martin Witting weitergeleitet. Nun übernehmen die KollegInnen im Betriebsrat einen größeren Teil der anfallenden Arbeit. Von dieser Änderung profitierten alle. „Die Einbindung von anderen, sich verlassen können und das Delegieren sind ganz wichtige Bestandteile einer erfolgreichen Arbeit.” Äußerst hilfreich bei der Organisation ist überdies Renate Baer, sie ist die „ausgezeichnete Zentralbetriebsrats-Assistenz in Wien“ die Witting organisatorisch vieles abnimmt. Martin Witting: „Der Vorteil eines Kollektivorgans ist, dass wir gemeinsam stark sind und nicht einer alles können muss.”
Freude an der Arbeit und am Leben
Seinen Weg in die Welt der Versicherungen fand Martin Witting gleich 1990 nach seiner Matura, obwohl er mit Anfang 20 viel lieber mit dem Snowboard herum kurvte. Drei Jahre bei Interunfall brachten ihn auf die Idee, doch auch gleich Jus zu studieren. Nach zwei Jahren Studium in Innsbruck und vielen Pistenabenteuern – etwa am Stubaier oder Zillertaler Gletscher – ließ er die Uni wieder sausen: „Mir war klar, dass ich weder Snowboard-Profi werde, noch mich mit Mitte Dreißig als Jurist bewerben will“. Deshalb heuerte Witting bei der Ersten Allgemeinen Versicherung an, die später zur Generali werden sollte.
Witting ist seit sieben Jahren glücklich verpartnert. „Mein Partner weiß, dass ich selten daheim bin“, erzählt er. Dabei hat das Leben keine zwei Betriebsräte zusammengebracht: „Er arbeitet in einem Unternehmen, das andere Menschen glücklich macht“, schmunzelt Witting und löst das Rätsel. Der Partner bekocht Restaurant-Gäste und freilich auch ihn. „Mein Lebend-Gewicht ist leider nicht mehr Snowboard tauglich“, seufzt der Zentralbetriebsratsvorsitzende. „Betriebsratsarbeit ist viel zu viel sitzen und wenig bewegen.“ Trotz des Haderns mit manch entbehrlichem Kilogramm hat Witting seine eigene Work-Life-Balance gefunden und lebt mit der Devise: „Nicht alles ist Geld, ich will auch Freude an der Arbeit und am Leben haben“. Gerne frönt er auch, wenn möglich, seiner Reiseleidenschaft. Als Südostasien-Liebhaber besuchte er Thailand, Vietnam, Laos und Kambodscha, erlebte Malaysia, die Philippinen und Indonesien.
Private wie geschäftliche Reisen und eine vereinnahmende Berufung lassen für seinen Herkunftsort Zirl wenig Platz: „Meine Mutter ist froh, wenn sie mich ab und zu sieht – sie weiß eh, dass ich viel unterwegs bin“. Aber sie weiß auch, dass ihr Sohn einiges erreicht hat.