In Gramatneusiedl bekamen 100 Langzeitarbeitslose einen Job vermittelt. Im Interview spricht Ökonom Lukas Lehner über überraschende Ergebnisse und darüber, wie diese dem Narrativ widersprechen, für Arbeitslose brauche es mehr Sanktionen.
KOMPETENZ: Sie sind im Burgenland aufgewachsen, wann haben Sie das erste Mal von Gramatneusiedl oder Marienthal gehört?
Lukas Lehner: Ich habe tatsächlich bereits als Teenager von Marienthal gehört, wegen der bekannten Sozialstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Die Studie hat seit den 1930er-Jahren zum einen die interessierte Öffentlichkeit in Österreich geprägt, aber auch international empirische Sozialforschung maßgeblich verändert. Sie hat gezeigt, was möglich ist, wenn man direkt ins Feld geht und einen Mix von unterschiedlichen Methoden anwendet, eine Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden, von ethnographischen und statistischen Methoden, kombiniert mit Interviews.
KOMPETENZ: Inwiefern schließt Ihre aktuelle Forschung an die Marienthal-Studie an?
Lukas Lehner: Damals wurden die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Menschen untersucht, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen und psychischen Auswirkungen. Heute untersuche ich mit meinem Kollegen Maximilian Kasy, was passiert, wenn der umgekehrte Fall eintritt: Wenn man arbeitslosen Personen einen Job anbietet, wie sich das wirtschaftlich und sozial auswirkt, wenn sie wieder Arbeit bekommen.
KOMPETENZ: Das Forschungsprojekt ist bis April 2024 angesetzt, aber die wissenschaftlichen Ergebnisse sind bereits publiziert. Wie wirkt sich Arbeitslosigkeit bzw. eine Jobgarantie auf Menschen aus?
Lukas Lehner: Unsere Ergebnisse zeigen, wie zentral Arbeit für Menschen ist. Nicht nur, dass das Einkommen gesichert wird, sondern wie Menschen über die Einbindung in einen Job psychosoziale Stabilität erlangen. Man muss dazusagen, dass diese Jobs freiwillig und nach Kollektivvertrag entlohnt sind. Interessant ist, dass jede Person, der ein Job angeboten wurde, diesen auch angenommen hat. Das hat uns selbst überrascht und das zeigt, dass Menschen wirklich arbeiten wollen, wenn sie einen Job angeboten bekommen.
Der zweite Punkt ist, dass Arbeit sinnstiftend wirken kann und Menschen sozial besser eingebunden werden und mehr soziale Kontakte knüpfen. Menschen mit einem Job fühlen sich im Leben stabiler und haben interessanterweise auch eine aktivere Freizeitgestaltung. Man könnte annehmen, dass Menschen, die mehr Freizeit haben, also ohne Arbeit sind, in ihrer Freizeit aktiver sind. Das Gegenteil ist der Fall und das deckt sich mit den Ergebnissen der Studie aus den 30er-Jahren: Dass arbeitslose Personen viel mehr zu Lethargie neigen und weniger aktiv sind als jene Personen, die in Arbeit sind, weil Arbeit in unserer Gesellschaft sinnstiftend und zentral für gesellschaftliche Anerkennung ist.
KOMPETENZ: Ihre Ergebnisse widersprechen dem derzeitigen Narrativ aus Teilen der Regierung, dass es Sanktionen, zum Beispiel ein degressives Arbeitslosengeld brauche, damit Menschen arbeiten wollen. Weil sie ansonsten auf der faulen Haut rumliegen würden…
Lukas Lehner: Ob und inwiefern unsere Ergebnisse von der Politik berücksichtigt werden, ist eine Frage der zuständigen Entscheidungsträger:innen. Aber die Ergebnisse zeigen natürlich, dass Arbeitssuchende nichts sehnlicher möchten, als wieder zu arbeiten. Und dass es nicht notwendig ist, Druck auszuüben, sondern dass sich Personen bei entsprechendem Angebot freiwillig entscheiden, einen Job anzunehmen, auch ohne Sanktionen. Die teilnehmenden Personen konnten sich im Rahmen des Programms auch dagegen entscheiden mitzumachen und weiterhin ihre Arbeitslosenunterstützung oder Notstandshilfe zu beziehen – gemacht hat das niemand.
KOMPETENZ: Dem AMS kostet eine arbeitslose Person durchschnittlich 30.000 jährlich, ein:e Teilnehmer:in am MAGMA-Projekt im selben Zeitraum 29.800 Euro. Was spricht dagegen, die Jobgarantie aufs ganze Land anzuwenden?
Lukas Lehner: Eine Jobgarantie wird nicht alle unsere sozialen Probleme lösen. Sie kann ein zusätzliches soziales Sicherungssystem zum bestehenden Wohlfahrtsstaat sein. Das heißt nicht, dass eine Jobgarantie den bestehenden Sozialstaat ersetzen kann, auch nicht die bestehende Arbeitslosenunterstützung und nicht die bestehende aktive Arbeitsmarktpolitik. Im Idealfall sollten Arbeitslose sich entscheiden können, welches Programm sie in Anspruch nehmen. In erster Linie erhöht eine Jobgarantie die Verhandlungsmacht jener, die in unserer Gesellschaft am schlechtesten gestellt sind. Es erhöht die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmer:innen und Arbeitssuchenden gegenüber Arbeitgeber:innen, weil sie eine zweite Option haben. Aber es erhöht auch die Verhandlungsmacht im privaten Bereich, beispielsweise indem Personen nicht mehr aufgrund finanzieller Abhängigkeit gezwungen sind, mit jemandem zusammenzuleben.
KOMPETENZ: Österreich ist bekannt dafür, dass politisch unbequeme Studienergebnisse mal in irgendwelche Schubladen verschwinden. Wie wird es mit euren Ergebnissen weitergehen?
Lukas Lehner: Unsere Studie verschwindet mit Sicherheit in keiner Schublade, sie ist bereits öffentlich und wir haben auch von Anfang an gesagt, wir konzipieren das Projekt nur dann, wenn wir vertraglich festlegen, dass wir die Studie ohne Einflussnahme von Verwaltung oder Kooperationspartnern wie dem AMS oder dem Arbeitsministerium veröffentlichen können. International gibt es wissenschaftlich großes Interesse am Thema und an unserer Studie. In anderen Ländern starten derzeit ähnliche Projekte, die EU will mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen. Der UN-Sonderberichterstatter für Armut und Menschenrechte hat uns konsultiert und ein jährlicher Bericht über das Thema Jobgarantie wurde unlängst im UN Menschenrechtsrat diskutiert. Er ist von den Regierungsvertreter:innen sehr positiv aufgenommen worden. Was in Österreich passiert, hängt von den politischen Akteur:innen ab. Wir können mit unserer Studie nur die wissenschaftliche Evidenz liefern und dadurch die Öffentlichkeit informieren, um einen Beitrag zur demokratischen Entscheidungsfindung zu leisten.
Zur Person: Lukas Lehner, 30, ist Ökonom und promoviert aktuell an der Universität Oxford zu Lohndynamiken. Mit einem Team der Universität Oxford und der Universität Wien evaluiert er das MAGMA-Projekt in Gramatneusiedl wissenschaftlich.
Zum Projekt: Das „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal“ (MAGMA) untersucht die Effekte einer Jobgarantie auf Langzeitarbeitslose. Im Zuge des Pilotprojekts bekamen 100 ehemals Langzeitarbeitslose in Gramtneusiedl einen Job vermittelt. Die Teilnahme daran ist freiwillig und die Arbeit wird kollektivvertraglich entlohnt. Die Forschenden untersuchen die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeitsplatzgarantie. Das Projekt läuft von Oktober 2020 bis voraussichtlich April 2024.
Die Ergebnisse der Studie können Sie HIER, als PDF und HIER, auf der Homepage von INET Oxford nachlesen.