Sozialrechtsexperte Tom Schmid, Politikwissenschafter und Geschäftsführer von „DAS BAND – gemeinsam vielfältig“, erklärt im Interview, was die Streichung der erhöhten Familienbeihilfe für behinderte Menschen bedeutet und warum die Beschäftigung in Einrichtungen der Tagesstruktur keine ausreichende sozialrechtliche Absicherung bringt.
KOMPETENZ: Mit August 2018 hat die Regierung die erhöhte Familienbeihilfe für einen Großteil behinderter Menschen in Österreich abgeschafft. Was bedeutet das für die Menschen?
Tom Schmid: Das hat verheerende Auswirkungen und ist ein massiver Einschnitt in die Eigenständigkeit der Menschen. Hier wurde ein fünf Jahre altes Urteil des Verwaltungsgerichtshofes auf behinderte Menschen umgelegt, das all jenen, die Familienbeihilfe streicht, deren Lebensunterhalt hauptsächlich durch die öffentliche Hand sichergestellt wird.
KOMPETENZ: Sollte die Regelung nicht entschärft werden?
Tom Schmid: Familienministerin Bogner-Strauß brachte dazu einen Initiativantrag im Parlament ein. Darin heißt es, dass behinderte Menschen die erhöhte Familienbeihilfe verlieren, wenn sie die bedarfsorientierte Mindestsicherung beziehen oder in einer betreuten Einrichtung untergebracht sind. Die rückwirkende Aberkennung der erhöhten Familienbeihilfe wird nicht ausgeschlossen – damit drohen Betroffenen neben dem aktuellen Verlust in der Zukunft auch noch hohe Rückzahlungen.
KOMPETENZ: Was bedeutet der Verlust der erhöhten Familienbeihilfe für die Betroffenen?
Tom Schmid: Da sowohl Mieten, aber auch die Kosten von Dienstleistungen wie Massagen, Haushaltshilfen oder Therapien laufend steigen, kommen die wenigsten mit Taschengeld, Mindestsicherung und Pflegegeld aus, um ein auch nur annähernd selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung zu führen. Wenn man Menschen mit Behinderungen Gelder streicht, führt man durch die Hintertür wiederum jene großen Heime ein, die man mit der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen eigentlich abschaffen wollte. Denn je weniger Geld die Menschen haben, desto eher können sie sich nichts anderes als ein Heim leisten.
KOMPETENZ: Wie sieht es grundsätzlich mit der sozialen Absicherung behinderter Menschen in Österreich aus?
Tom Schmid: Schlecht. Viele Betroffene verfügen nur über eine kleine Pension oder über gar keine Pension und müssen von der bedarfsorientierten Mindestsicherung leben. Davon werden die Einkommen anderer Personen, die an derselben Meldeadresse wohnen, abgezogen – im Gesetz heißt das: „Bedarfsgemeinschaft“. Wenn man also nicht alleine wohnt, weil man Hilfe braucht, hat man so wenig Einkommen, dass man nicht mehr selbständig über die nötigsten Anschaffungen entscheiden kann. Das Pflegegeld, das kein Einkommen, sondern nur ein Zuschuss zu notwendigen Pflegeleistungen ist, wurde seit 1993 erst drei Mal erhöht. Heute erhält man pro Betreuungsstunde rund vier Euro Pflegegeld, viel zu wenig, um sich dafür Pflege auch kaufen zu können. Daher bleibt man auch in der Pflege weitgehend auf Angehörige und Nachbarn angewiesen – eine weitere Einschränkung von Selbstbestimmung.
Rund 25.000 Personen gelten als so behindert, dass sie als „nicht arbeitsfähig“ erklärt werden. Sie sind in Tagesstrukturen tätig, leisten dort ihre Arbeit (üblicherweise 40 Stunden in der Woche), erhalten aber nur ein Taschengeld von rund 130 Euro oder weniger im Monat und sind nur unfallversichert. Das bedeutet, dass diese Menschen auch nach dreißig oder vierzig Jahren täglicher Arbeit in einer Tagesstruktur keinen Cent Pension erhalten und auch im Alter weiter auf die Mindestsicherung und ihre Verwandten angewiesen sind. Bestehende Ungleichheiten werden durch diese Beschäftigungsverhältnisse weiter verstärkt. Die Altersarmut, vor allem bei Frauen mit Behinderung, wächst weit stärker als im österreichischen Durchschnitt.
KOMPETENZ: Wo sehen Sie eine sozialrechtliche Lösung?
Tom Schmid: Derzeit können behinderte Menschen nicht gleichermaßen am Wirtschaftsaufschwung teilhaben wie andere Bevölkerungsgruppen und sind deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen. Um das zu ändern, wäre es notwendig, Behinderte in ordentliche Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. So könnten bestehende Talente und Begabungen gefördert werden und behinderte Menschen wären endlich auch sozialversicherungsrechtlich umfassend abgesichert.
KOMPETENZ: Der Gesetzgeber teilt diese Absicht: Schon jetzt müssten Betriebe mit mehr als 25 ArbeitnehmerInnen im Rahmen des Behinderteneinstellungsgesetzes behinderte Menschen beschäftigen.
Tom Schmid: In der Praxis funktioniert das leider nicht sehr gut. Trotz eines Quotensystems für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen bevorzugt es die Mehrheit der ArbeitgeberInnen, den offensichtlich zu geringen Betrag an Ausgleichstaxe zu zahlen, anstatt die Quotenregelung zu erfüllen. Aus dem Zivilgesellschaftbericht 2018 geht hervor, dass lediglich 2,9 Prozent aller österreichischen Unternehmen mehr als 25 Beschäftigte haben und daher zur Einstellung behinderter Menschen verpflichtet wären. Von diesen Unternehmen kommen nur etwa 22 Prozent ihrer Verpflichtung nach.
KOMPETENZ: Wo liegen die Probleme?
Tom Schmid: Die österreichische Gesetzgebung setzt die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft immer noch sehr zögerlich um. Im Zentrum der gesetzgeberischen Aktivitäten stand viel zu lange Zeit der Versorgungsgedanke.
Durch das Rehabilitationsrecht der gesetzlichen Sozialversicherungen wurde die Integration behinderter Menschen in die Arbeitswelt nur teilweise gefördert. Am besten funktionierte und funktioniert die berufliche Rehabilitation nach Arbeitsunfällen und Wegunfällen. Wir befürchten aber, dass durch die Angriffe der aktuellen Bundesregierung auf die AUVA diese hohen Standards auch hier nicht mehr lange zu halten sein werden. Gleichzeitig zu den begünstigenden Gesetzesbestimmungen wurden immer umfangreichere Parallelwelten von Wohngemeinschaften, Heimen, Behindertendörfern sowie abgesonderten Beschäftigungseinrichtungen, den geschützten Werkstätten, und Beschäftigungstherapie, aufgezogen.
KOMPETENZ: Wo liegen die Perspektiven?
Tom Schmid: In Artikel 19 der UN-Konvention wird klar festgelegt, dass Menschen mit Behinderungen das freie Wahlrecht über ihren Wohnort und die gewünschte Wohnform haben. Sie sollen also alleine entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen und auch frei entscheiden, wo und was sie arbeiten möchten. Prekäre Arbeitsverhältnisse ohne Lohn und ohne sozialversicherungsrechtliche Absicherung sind daher nicht nur klar diskriminierend und verfestigen bestehende Abhängigkeiten, sondern sie verstoßen auch gegen die – von Österreich als erstem Staat der Erde unterschriebene – UN-Konvention.
Im Gegensatz zu den an den Allgemeinen Menschenrechten orientierten Vorgaben der Konvention funktionieren die Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen häufig wie „Gegenwelten“, in denen sie leider immer noch sehr häufig als nicht vollwertig wahrgenommen und auch so behandelt werden.
KOMPETENZ: Wie äußert sich das?
Tom Schmid: In vielen Einrichtungen und darüber hinaus in vielen öffentlichen Situationen ist es nach wie vor üblich, behinderte Menschen nur mit dem Vornamen und „per Du“ anzusprechen. Betroffene erleben das als mangelnden Respekt gegenüber ihrer Persönlichkeit.
KOMPETENZ: Haben die gesetzlichen Änderungen auch Vorteile gebracht?`
Tom Schmid: In den letzten 20 Jahren wurde das Behindertengleichstellungsrecht passabel ausgebaut. Es gibt nun auch eine Bestimmung im Bundesverfassungsgesetz: Art 7 B-VG, in dem es um die Gleichbehandlung aller Staatsbürger geht, schreibt ausdrücklich fest, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Auch die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen brachte wesentliche Verbesserungen: Behinderung wird heute nicht mehr medizinisch verstanden und mit stigmatisierenden Diagnosen belegt. Wir sehen Behinderung als Mischung all jener Faktoren an, die einen Menschen an der vollen Lebensentfaltung hindert, erkennen aber auch bei Menschen mit Behinderungen vor allem ihre Fähigkeiten und Ressourcen. Heute werden die Stärken behinderter Personen betont, um deren Entfaltung zu unterstützen und mit ihnen zu arbeiten.
KOMPETENZ: Was bedeutet die UN-Konvention für das Leben der behinderten Menschen?
Tom Schmid: Eigentlich ist sie eine Kampfansage an die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Gegenwelten behinderten Lebens. Diese sollten in eine normale Welt aufgelöst werden – Inklusion im Sinne der UN-Konvention, beginnend mit einem inklusiven Bildungssystem.
KOMPETENZ: Was würde das den Behinderten bringen?
Tom Schmid: Es würden jene Bedingungen geschaffen, die es Behinderten ermöglichen, ein normales und selbstbestimmtes Leben unter anderen normalen und selbstbestimmten Menschen führen zu können und Unterstützung zu bekommen, wo es notwendig ist, Dafür dürfen die Menschen aber nicht von der „normalen“ Welt abgesondert werden. Ein inklusiver Regelarbeitsplatz sollte alle notwendigen Unterstützungen bieten ohne auszusondern. Auch eine betreute eigene Wohnung wäre in diesem Sinne. Um wirklich lebbare Alternativen zu den Großheimen zu schaffen, müssen neue Wohnmodelle, wie teilbetreute Einzelwohnungen und ein Verbund an Garconnieren, in die Tat umgesetzt werden.
Was auch noch wichtig ist: Inklusive Lebens- und Wohnformen gefährden keine Arbeitsplätze in der „Behindertenhilfe“, sondern sie stellen die gesamte Branche auf neue Beine. Auch für betreuende Personen ist es selbstbestimmter, mit Menschen in ihren eigenen Wohnungen oder an ihren „normalen“ Arbeitsplätzen zu arbeiten, als in die starre Hierarchie einer Großeinrichtung eingebunden zu sein.
KOMPETENZ: Was bleibt noch zu sagen?
Tom Schmid: Die Rechte behinderter Menschen sind unteilbare Menschenrechte und keine Gnade einer Gesellschaft, die sich vom Anblick behinderter Menschen freikaufen will.