Zwei profunde Kenner des Sozial- und Wirtschaftssystems arbeiten unaufgeregt aber treffsicher die vielen Vorteile der Selbstverwaltung im System der österreichischen Sozialversicherung heraus.
Für alle, die einen Weg zwischen komplizierten Fachbegriffen, verschachtelten Organisationsstrukturen und scheinbar unergründlichen Entscheidungswegen suchen, ist das Buch die richtige Lektüre.
Es illustriert die historische Entstehung der Selbstverwaltung ebenso wie deren aktuelle Bedeutung und macht vor der inhaltlich mit 1. Jänner 2020 in Kraft tretenden Strukturreform auch mit den finanziellen Hintergründen reinen Tisch.
Dimmel und Schmid zeichnen akribisch nach, wie durch die, im Dezember 2018 von der konservativen türkis-schwarz-blauen Regierung beschlossenen Strukturreform, die Rechte der Arbeitgeber in der Selbstverwaltung immer stärker ausbaut werden, während die Einflussmöglichkeiten der ArbeitnehmerInnen kontinuierlich zurückgefahren werden. Dabei rufen sie die Kernidee der Selbstverwaltung in Erinnerung: die Zivilgesellschaft beteiligt sich in Form von rechtlich verselbstständigten Organisationen – den Sozialversicherungsträgern – an der Erfüllung staatlicher Aufgaben. Das ist keine selbstverständliche Errungenschaft!
Die Autoren zeigen, dass es vorteilhaft ist, dass Kranken- Unfall- und Pensionsversicherung keine direkten Dienststellen des Sozialministeriums sind, sondern bislang von jenen FunktionärInnen verwaltet wurden, die ihr Ohr nahe an den Problemen der Versicherten haben: Das System war der politischen Willkür nicht derart zentral ausgeliefert wie andere Verwaltungsbereiche, beispielsweise das AMS. Die Versicherten fühlen sich „ihrem System“ stärker verbunden als abgehobenen, staatlichen Verwaltungseinheiten.
2.000 ehrenamtliche VersichertenvertreterInnen
Mit der Selbstverwaltung hatte die gesetzliche Sozialversicherung bislang rund 2.000 Personen zur Verfügung, die nahezu unbezahlt in Betrieben und Interessenvertretungen Öffentlichkeitsarbeit für die soziale Sicherheit in diesem Land erbrachten. Dimmel und Schmid gelingt es, diese Mitwirkung der ArbeitnehmerInnen als essenziellen Bestandteil einer Demokratie, als wichtigen Pfeiler gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung der Versicherten darzustellen: weil hier die öffentliche Aufgabe der sozialen Sicherung von den unmittelbar Betroffenen selbstständig, eigenverantwortlich, weisungsfrei und politisch ungebunden besorgt wird. Auch Beitrageinhebung und Leistungsfestsetzung blieben damit vor politischer Willkür weitestgehend verschont.
Ganz nebenbei erwarben die Versichertenvertreter große sozialrechtliche Kompetenz, die sie in ihren Zivilberufen zu Gunsten der Menschen einsetzen konnten. Viele Entscheidungen der Versicherungen wurden so für die Versicherten leichter verstehbar und nachvollziehbar – eine wichtige Brückenfunktion der Mitglieder der Selbstverwaltung. Klar wird: die Sozialversicherung verkörpert ein wichtiges Handlungsfeld der Sozialpartnerschaft.
Dimmel und Schmid gehen mit der politisch gewollten Entdemokratisierung der Sozialversicherung hart ins Gericht: Die beschlossene Strukturreform instrumentalisiert die Sozialversicherung parteipolitisch und die Arbeitgeber erhalten die Gestaltungshoheit über die Leistungen der Krankenversicherung. Diese organisatorischen Veränderungen werden aus Sicht der Autoren letztlich direkt zu einer Drei-Klassenmedizin führen: einem hohen Versorgungsniveau für Beamte und PolitikerInnen, einem mittleren für Gewerbetreibende und Bauern und einer Basisversorgung für ArbeiterInnen und Angestellte. Aus dieser Logik heraus sind für die breite Masse an Versicherten wesentliche Leistungskürzungen zu erwarten.
Dimmel und Schmid setzen mit ihrem fakten- und detailreichen Buch einen kraftvollen Kontrapunkt zu den gehäuft auftretenden „empiriebefreiten Behauptungen“ über diverse Einsparungspotentiale dieser Reform, die nicht einmal der Rechnungshof finden konnte.
Nikolaus Dimmel, Tom Schmid
Selbstverwaltung: Die demokratische Organisation der sozialen Daseinsvorsorge
ISBN: 978-3-99046-440-3, 29,90 Euro