Die häusliche 24-Stunden-Pflege steht vor dem Kollaps, doch auch in den Pflegeheimen ist die Situation mehr als angespannt. Eine Wiener Pflegekraft erzählte im Interview über ihren Alltag in der Coronakrise.
Für sie bedeutet es jede zweite Woche bis zur Erschöpfung zu arbeiten, durch die Maskenpflicht schlecht atmen zu können und zuzusehen, wie die zu Pflegenden durch mangelnde Zeit für Betreuung zunehmend an Immobilität und geistigem Rückzug leiden. Die ohnehin schon bestehende Pflegekrise habe sich nun noch massiv verschärft.
KOMPETENZ: Sie arbeiten in einem Pflegeheim. Wie hat sich Ihre Arbeitssituation seit Ausbruch des Coronavirus verändert?
PAULA M.*: Die Arbeitsbedingungen haben sich wesentlich verschlechtert. Es gibt nun ein neues Arbeitszeitmodell. Vorher habe ich 25 Stunden pro Woche gearbeitet. Nun arbeiten wir doppelt so lange in einer Woche und haben dann eine Woche frei. In der Realität arbeite ich nun 60 Stunden in der Woche, in der ich arbeite, dabei habe ich Tag- und Nachtdienste. Das ist auch gesetzlich erlaubt. Statt 25 Stunden jede Woche, bin ich nun also jede zweite Woche 60 Stunden im Dienst.
KOMPETENZ: Was bedeutet für Sie persönlich?
PAULA M.: Es ist eine enorme physische und psychische Belastung. Ich bin verheiratet, zwei der Kinder sind noch klein – sie sind sieben und zehn Jahre alt. Mein Mann arbeitet ebenfalls in der Pflege. Wir müssen uns nun ständig neu organisieren, wer ist wann bei den Kindern, wer kümmert sich um das home schooling, wer kauft ein, wer kocht. Die Großeltern fehlen für die Betreuung, so müssen wir enge Familienmitglieder und Freunde um Hilfe bitten, sonst würden wir es nicht schaffen.
„Manchmal bin ich so müde, dass ich sofort, wenn ich nach Hause komme, einschlafe.“
Paula M., Pflegerin
KOMPETENZ: Wie geht es Ihnen gesundheitlich nach einer 60-Stunden-Woche?
PAULA M.: Manchmal bin ich so müde, dass ich sofort, wenn ich nach Hause komme, einschlafe. Meistens ist der Adrenalinspiegel aber auf einem so hohen Niveau, dass ich nicht herunterkomme. Ich kann nicht einschlafen. Nun war es auch schon so, dass ich dann nach so einer Woche in der ersten Nacht gar nicht schlafe und fernschaue oder putze. Wenn ich dann endlich herunterkomme, dann brauche ich einen Tag komplette Ruhe und Schlaf. Erst dann normalisiert es sich langsam.
KOMPETENZ: Warum wurde mit der Coronakrise auf einen Zwei-Wochen-Arbeitsrhythmus umgestellt?
PAULA M.: Es wurde mit der Ansteckungsgefahr begründet. Das Pflegepersonal wurde auf zwei Teams aufgeteilt. Die Idee war, dass, wenn sich aus einem Team jemand ansteckt, das ganze Team in Quarantäne gehen kann und das zweite Team übernimmt.
KOMPETENZ: Ist bereits jemand erkrankt?
PAULA M.: In der Einrichtung, in der ich arbeite, haben sich bisher weder MitarbeiterInnen noch PatientInnen angesteckt. Aber eine Kollegin hat sich im Dienst verkühlt und wurde nach Hause geschickt, um sich testen zu lassen. 72 Stunden hat sie dann auf ihr Testergebnis gewartet und wurde dabei von der Vorgesetzten unter Druck gesetzt, im Labor und beim Magistrat nachzutelefonieren, damit sie rascher weiß, ob sie an Covid-19 erkrankt ist oder nicht. Man muss ja auch sagen: alle sind derzeit enorm unter Druck – auch die Leitung. Sie haben Angst, dass sie, wenn PatientInnen am Coronavirus erkranken oder sogar sterben, von Angehörigen geklagt werden. Darüber gibt es ja auch schon Medienberichte. Dieser Druck wird dann über alle Hierarchiestufen bis zu uns PflegerInnen weitergegeben.
„Niemand aus unserem Team hat verstanden, warum jemand, der krank und eigentlich in Quarantäne ist, gerade in einem Pflegeheim arbeiten muss, wo die Schutzbedürftigen erster Klasse sind.“
Paula M., Pflegerin
Die Kollegin wurde schließlich informiert, dass der Test negativ ausgefallen ist. Dennoch wurde behördlich eine zweiwöchige Quarantäne angeordnet. Trotzdem hat die Leitung des Hauses sie aufgefordert, wieder zum Dienst zu kommen. Sie hatte darauf Sorge, entweder eine Strafe zu bekommen oder ihre Zulassung als Pflegekraft zu verlieren. Die Leitung hat dann zugesagt, sich um eine Lösung zu bemühen, doch es kam ein Rückschlag seitens der MA 15: Eine Ärztin sagte zu ihr, sie sei eine Schlüsselkraft und könne sofort wieder ihren Dienst im Pflegeheim antreten. Da sie aber in Quarantäne sei, müsse sie nach der Arbeit sofort nach Hause fahren und dürfe nicht spazieren oder einkaufen gehen. Niemand aus unserem Team hat verstanden, warum jemand, der krank und eigentlich in Quarantäne ist, gerade in einem Pflegeheim arbeiten muss, wo die Schutzbedürftigen erster Klasse sind.
KOMPETENZ: Wie sehen grundsätzlich die Schutzmaßnahmen für das Pflegepersonal aus?
PAULA M.: Abstand halten, das geht aber nur unter den MitarbeiterInnen. Wenn man pflegt, kann man von den BewohnerInnen des Heimes keinen Abstand halten. Es gibt Handdesinfektion und wir sollen zwei Handschuhe übereinander tragen. Wir haben auch Masken, das sind FFP2-Masken, wie sie Poliere tragen. Sie sind aber nicht für stundenlanges Tragen gedacht. Wir müssen sie in dem 12-Stunden-Dienst aber dauernd tragen. Die Gummis und die Maske verursachen extremen Druck auf Nase und Ohren. Man bekommt Druckstellen und offene Wunden.
KOMPETENZ: Haben Sie auch offene Wunden bekommen?
„Die Gummis und die Maske verursachen extremen Druck auf Nase und Ohren. Man bekommt Druckstellen und offene Wunden.“
Paula M., Pflegerin
PAULA M.: Ich hatte offene Stellen an den Ohren. Wir schützen inzwischen Nase und Ohren mit Schutzverbänden. Da man mit diesen Masken sehr schwer Luft bekommt, wurde uns empfohlen, nach jeder Pflege eines Bewohners, einer Bewohnerin, auf den Balkon zu gehen, die Maske kurz abzusetzen und frische Luft einzuatmen. Die Leitung hat außerdem empfohlen, jede Stunde eine kurze Pause zu machen und das machen wir jetzt auch. Ich bin Nichtraucherin und hatte nie Atemprobleme oder Probleme mit der Lunge. Jetzt habe ich das Gefühl, kurzatmig zu sein. Das Arbeiten mit diesen Masken ist zusätzlich sehr anstrengend. Das Arbeiten mit Maske ist aber angeordnet, das kann man nun nicht ändern.
Was aber noch dazukommt: viele Pflegekräfte sind selbst nicht mehr ganz jung. In meinem Team ist das Gros der KollegInnen älter als 50 Jahre. Da wiegen solche Arbeitsbedingungen doppelt schwer, so manche oder mancher gehört selbst zur Risikogruppe. Und unsere PatientInnen sowieso.
KOMPETENZ: Wie wirken sich die Covid-19-bedingten Umstellungen in der Pflege auf die Menschen aus, die gepflegt werden?
PAULA M.: Es ist weniger Zeit für den Einzelnen da. Die Menschen haben ja aber auch weniger Kontakte, weil keine BesucherInnen kommen dürfen. Sie leiden mehr an Einsamkeit und Langeweile, weil es zu wenige Reize gibt.
KOMPETENZ: Es werden also nur mehr die absoluten Grundbedürfnisse der zu Pflegenden gestillt. Was sind die Konsequenzen, wenn das nun noch einige Wochen oder Monate so weitergeht?
PAULA M.: Sie werden körperlich immobil und bekommen Schluckbeschwerden. Bei jenen, die an Demenz erkrankt sind, schreitet die Demenz enorm fort. Die Leute ziehen sich in sich zurück und sind auch für uns schwerer erreichbar. Demente Personen brauchen Zuneigung, dass man sie streichelt, dass man ihnen viel Information gibt. Wir tragen nun die Masken und die Menschen haben teilweise Angst vor der Maske. Wenn sich Menschen langweilen oder Angst haben, werden sie entweder aggressiv oder sie ziehen sich in ihre eigene Welt zurück, was wir eigentlich nicht wollen. Auch in Demenz wollen wir Menschen Lebensqualität bieten und das ist so nicht möglich. Dieser Rückzug ist das schlimmste.
KOMPETENZ: Wie lange denken Sie, können Sie diese Art des Arbeitens und diesen Zwei-Wochen-Rhythmus noch aushalten?
PAULA M.: Ich habe mich entschieden, bis Ende Juni zu warten, ob sich die Dinge wieder normalisieren, wovon aber nicht auszugehen ist, weil wir ja einen grundsätzlichen Pflegenotstand haben. Ich habe mir jedenfalls als Zeithorizont Ende Juni gesetzt, dann werde ich mich entscheiden, ob ich im Job bleibe oder eine andere Art von Job annehme.
KOMPETENZ: Gesellschaftlich gibt es derzeit viel Anerkennung für ArbeitnehmerInnen, die in der Pflege arbeiten, in Supermärkten, in anderen systemrelevanten Branchen. Viele Menschen klatschen um 18 Uhr, um diese Anerkennung auszudrücken. Wie kommt dieser Applaus bei Ihnen an?
PAULA M.: Wir brauchen keinen Applaus, sondern eine Antwort auf den Pflegenotstand. Den gab es schon vor dem Coronavirus, die Krise hat das nun noch verschärft, da es noch weniger Pflegekräfte gibt. Es passiert immer wieder, dass KollegInnen die Nerven verlieren und kündigen. Und die, die weggehen, werden nicht nachbesetzt, weil es keine Pflegekräfte am Markt gibt. Es ist ja nicht alles schwarz und weiß. Die Leitungen vieler Häuser bemühen sich, Kräfte zu bekommen, sie wollen auch bessere Arbeitsbedingungen für uns. Aber in dieser Situation ist jeder unter Stress, denn es ist keine Lösung in Sicht. Es haben weder die Betreiber von Pflegeheimen leicht noch wir Pflegekräfte. Gleichzeitig bricht die häusliche 24-Stunden-Pflege zusammen, weil die PflegerInnen nicht mehr aus Bulgarien, Rumänien oder der Slowakei einreisen dürfen. Da werden sich nun wohl Angehörige um diese Menschen kümmern müssen, die das aber gar nicht können, denn in den Heimen gibt es keine Kapazitäten mehr.
KOMPETENZ: Gibt es irgendeine Form der Unterstützung, die Ihnen derzeit helfen würde?
PAULA M.: Es wäre gut, wenn freiwillige HelferInnen in die Pflegeheime kommen dürften, die sich unter der Anleitung von Pflegekräften mit den Menschen beschäftigen, die vorlesen oder Gedächtnisübungen mit ihnen machen. Finanziell fordern wir schon lange eine bessere Entlohnung. Als Anerkennung für unsere schweren Dienste würden wir uns auch über eine Corona-Zulage freuen. Die sollte es für alle in der Pflege Tätigen geben, nicht nur für jene auf Corona-Stationen. Vor allem aber braucht es ein Zukunftskonzept, wie es mit der Pflege weitergeht. Es braucht viel mehr Pflegekräfte, damit das System nicht völlig zusammenbricht.
*Die Interviewpartnerin möchte anonym bleiben, daher wurde der Name von der Redaktion geändert.