Massiver Anstieg von Schulden durch Corona

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„Menschen, die erstmals zu uns in die Beratung kommen, geht es nie gut,“ sagt Bernhard Sell. „Es ist ein Tabuthema.“ Sell arbeitet seit rund 20 Jahren bei der Schuldnerberatung der Stadt Wien. Bankschulden, Privatkonkurs, Lohnpfändung und Stundungen, all das betrifft immer mehr Menschen in Österreich – Tendenz steigend.

Die sich ausweitende Schere zwischen Arm und Reich treibt immer mehr Menschen in die Armut, die Coronakrise verschärft die Lage massiv. Sell und seine KollegInnen von der Schuldnerberatung Wien versuchen mit ihren KlientInnen zusammen das Schlimmste abzufangen. „90 Prozent der Leute können wir eine Perspektive geben und einen Plan vorzeichnen, was weiter passieren wird – oft schon beim ersten Beratungstermin.“ Und vielen gehe es dann schon etwas besser, erzählt Sell. Soweit der Normalzustand in der Schuldenberatung. Was aber hat sich durch die Coronakrise verändert?

Aktuell sind in ganz Österreich 17.000 MieterInnen von Delogierungen bedroht, da die coronabedingt gestundeten Mieten jetzt fällig werden. Ist im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der KlientInnen der Schuldnerberatung österreichweit schon um 20 Prozent angestiegen, so ist davon auszugehen, dass die Anfragen in Zukunft durch die Decke gehen. Hauptgrund ist dabei selten der falsche Umgang mit Geld, sondern vielmehr Arbeitslosigkeit und gescheiterte Selbstständigkeiten. Armut ist kein Naturgesetz, sondern eine Folge politischer Entscheidungen im Umgang mit Krisen. Dabei lag das Mittel der Einkommen von KlientInnen der Schuldnerberatungen schon die vergangenen Jahre deutlich unter dem Einkommen des Bevölkerungsdurchschnitts. Die Hilfe der SchuldenberaterInnen brauchen also immer mehr die Ärmsten der Gesellschaft. Die Coronakrise verschärft deren Lage zunehmend.

Mehr Schuldenberatungen

Über Probleme bei der Nachfrage konnte sich Bernhard Sell also leider noch nie beschweren. „Acht Prozent der Arbeitslosen haben irgendwann in ihrem Leben einen Termin bei uns,“ so Sell. Neben Arbeitslosen waren es in der Vergangenheit überwiegend gescheiterte Selbstständige, die sich zur Beratung bei der Schuldnerberatung einfinden müssten. Durch die Coronakrise ändert sich aber das Klientel: „Plötzlich kommen Leute, die früher nie dran dachten, dass sie mal eine Schuldnerberatung brauchen.“ Menschen, die durch die Wirtschaftskrise den Niedergang ihres Lebenswerkes, wie etwa einen Familienbetrieb, nicht mehr abwenden konnten. „Das sind Leute, die völlig schuldenunerfahren sind und das Gefühl haben, da schuldlos rein gekommen zu sein.“ Auffällig sei auch, dass immer mehr Verschuldete mit psychischen Problemen oder Sucht konfrontiert sind, erzählt Sell. Neu ist für den Juristen auch, dass Menschen immer öfter ihre Rückzahlungspläne, die sie zusammen mit der Schuldnerberatung ausgearbeitet haben, nicht mehr einhalten könnten.

Die Arbeitslosigkeit in Österreich ist durch die landesweiten Schließungen von Kultur-, Tourismus- und Gastronomiebetrieben im letzten Jahr enorm gestiegen. Aktuell ist es vor allem die Gruppe von Menschen unter 25, die immer öfter von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Eine Zunahme der Verschuldung sei auch bei den ohnehin schon gefährdeten Gruppen zu verzeichnen, AlleinerzieherInnen und Frauen mit geringem Einkommen.

» Plötzlich kommen Leute, die früher nie dran dachten, dass sie mal eine Schuldnerberatung brauchen. «

Bernhard Sell

Außerdem: „Die Anzahl der Menschen, welche existenzielle Probleme haben, die Miete, Strom oder Heizung nicht mehr bezahlen können, ist viel höher geworden,“ erklärt Bernhard Sell sichtlich besorgt. Er nennt sie „gefährliche Schulden“ – im Gegensatz zu Schulden bei Gläubigern wie Banken, sind Schulden, die das unmittelbare Leben betreffen noch gefährlicher. Es drohe das Abstellen des Stroms, der Verlust der Wohnung und ähnliches. Mit Ende der staatlichen Corona-Hilfspakete wird die Zahl der „gefährlich Verschuldeten“ weiter ansteigen. „Viele Firmeninsolvenzen sind durch die Corona-Unterstützungsmaßnahmen eigentlich nur aufgeschoben,“ erklärt der Schuldenexperte. Die Folge: „Nach Auslaufen der Maßnahmen werden auch die Privatinsolvenzen stark in die Höhe gehen.“

Alles andere als rosige Aussichten. Doch wie kann Verschuldung abgewendet werden, was tun, wenn man selbst oder Bekannte in die Schuldenfalle rutschen? „Zuallererst sollte man Kontakt mit den Gläubigern aufnehmen“, den Absendern der unbezahlbaren Rechnungen. Meist könnten Stundungen oder andere Lösungen ausverhandelt werden.

Die Bekämpfung von Armut und Verschuldung ist aber auch Aufgabe der Politik. Wird eine Lohnpfändung angewiesen, so wird das Einkommen bis auf das Existenzminimum eingezogen, ebenso beim Privatkonkurs. Mit 1000 Euro liegt das Existenzminimum für eine alleinstehende Person in Österreich deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle. „Ein menschenwürdiges Leben ist mit dem Existenzminimum kaum möglich.“ Die Kernforderung der SchuldenberaterInnen lautet daher: „Das Existenzminimum muss angehoben werden.“ Berücksichtigt man die Tatsache, dass nur ein kleiner Teil der Schulden selbst verschuldet ist, braucht es kollektive Lösungsansätze. Armut kann nicht ausschließlich auf individueller Ebene bekämpft werden. Armut ist und bleibt ein gesellschaftliches Problem.

Was tun gegen Überschuldung?

  1. Überblick behalten: Einnahmen und Ausgaben jeden Monat im Auge behalten – z.B. über www.budgetrechner.at
  2. Ausgaben überdenken: Spontane Anschaffungen vermeiden. Am besten eine Nacht darüber schlafen: Brauche ich das wirklich?
    Eine bewährte Methode für Haushalte, die besonders knapp kalkulieren müssen, ist die Kuvert-Methode: Am Monatsanfang wird der Betrag
    abgehoben, der für den Monat zur Verfügung steht und in vier Geldkuverts (für jede Woche eines) gegeben.
  3. Über Geld reden: Geldthemen sind häufig Tabuthemen. Dabei wäre es wichtig, gerade auch in der Familie und besonders mit den Kindern
    über Geld zu reden.
  4. Bargeld verwenden: Wann immer möglich mit Bargeld zahlen, denn das stärkt das Bewusstsein für Ausgaben und der Überblick geht nicht so
    schnell verloren. Zum Shoppen Karten daheim lassen
  5. Kontoüberzug vermeiden: Ein überzogenes Konto ist auf jeden Fall ein Alarmsignal, dass die Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben nicht stimmt. Spätestens jetzt sollte ein genauer Blick auf das Haushaltsbudget geworfen werden. Was viele vergessen: Ein Kontoüberzug ist nichts anderes als ein Kredit – mit (sehr hohen) Kreditzinsen.
  6. Hilfe in Anspruch nehmen: Das kann beispielsweise eine kostenlose Budgetberatung (www.budgetberatung.at) sein oder auch Service-
    Angebote der Arbeiterkammer. Wenn die Rückzahlung bestehender Schulden schwierig wird und wichtige Posten wie Miete, Strom/Gas,
    Heizung, Alimente nicht mehr bezahlt werden können, dann ist es höchste Zeit, einen Termin bei der Schuldenberatung zu vereinbaren! Besser früher als später. In jedem Bundesland gibt es eine kostenlose staatlich anerkannte Schuldenberatung, Kontaktdaten unter
    www.schuldenberatung.at

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