Als Betriebsrätin beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim kämpft Irmgard Gettinger gegen Klischees aus der Vergangenheit und für das Home-Office der Zukunft. In beiden Fällen mit Aussicht auf Erfolg.
Wer zu Irmgard Gettinger will, hat einige Hürden zu überwinden. In ihrem Unternehmen, dem Pharmariesen Boehringer Ingelheim (BI), läuft vieles diskret. Dementsprechend zahlreich sind die Schranken, die BesucherInnen passieren müssen, um ins Innere zu gelangen. Am gesamten Meidlinger Areal – das eher an eine Kleinstadt erinnert, denn an ein Betriebsgelände – herrscht Fotoverbot.
Ein Blick vom Besprechungszimmer im 4. Stock runter auf die Großbaustelle verrät: das Städtchen der Marke BI soll auch zukünftig wachsen. Rund 700 Millionen Euro investiert der Pharmakonzern mit Sitz im deutschen Ingelheim am Rhein in den Standort Wien-Meidling, die bis dato größte Einzelinvestition der Unternehmensgeschichte. Als Gettinger hier vor 22 Jahren zu arbeiten begann, zählte sie rund 600 KollegInnen – nächstes Jahr, mit Fertigstellung der neuen Zellkultur-Produktionsanlage, sollen es 2500 sein. Mag eine schnell wachsende Belegschaft für die Unternehmensspitze ein Segen sein, Gettingers Arbeit als Betriebsratsvorsitzende macht das nicht unbedingt einfacher.
Kampf den Geschlechterstereotypen
Für die insgesamt 16 BetriebsrätInnen am Wiener Standort ist es bereits eine Herausforderung, mit den permanenten innerbetrieblichen Veränderungen Schritt zu halten. Noch vor zwei Jahren, bei der letzten Betriebsratswahl arbeiteten rund 1800 Personen am Meidlinger Standort. Auf diese Betriebsgröße ist eigentlich auch das Betriebsratsteam ausgelegt.
Gettinger kam 1998 als Produktmanagerin für Consumer Health Care für Humanarzneimittel zu BI. Vier Jahre später wurde sie in den Betriebsrat, 2004 zu dessen Vorsitzenden gewählt. Obwohl sie, wie sie heute selbstkritisch sagt, auf das Angebot zunächst „typisch weiblich“ geantwortet hatte: „Nein, das kann ich nicht“. Dass sie es doch kann, beweist sie als Betriebsratsvorsitzende seit nunmehr über 15 Jahren. Mangelndes Selbstbewusstsein von Frauen begegnet ihr auch heute noch regelmäßig: „Frauen trauen sich viel weniger zu“, beobachtet Gettinger. Ein Grund dafür, dass das Thema Chancengleichheit zu einem der Arbeitsschwerpunkte des Betriebsrats wurde. Wenn Gettinger sich an ihre Anfangszeit als Betriebsrätin erinnert, muss auch sie eingestehen, dass das oftmals keine Leichte war. „Für eine Betriebsratsvorsitzende war ich mit meinen 40 Jahren relativ jung – und hatte es mit sehr vielen Männern zu tun, die Großteils älter waren als ich“.
Mit dem Lockdown kam der Digitalisierungsschub
Für die Zukunft ist die heute 55-Jährige dennoch optimistisch. Ihrem Vernehmen nach „agieren junge Frauen zunehmend mit einem anderen Selbstverständnis. Das ist schon eine andere Generation als vor 10 oder 15 Jahren. Die kommen mit einem anderen Selbstbewusstsein, einer anderen Haltung. Und das ist gut so“. Das spiegelt sich auch in der Unternehmensspitze wider. Waren es vor zehn Jahren noch rund 25 Prozent weibliche Führungskräfte sind es mittlerweile über 40 Prozent. Aber geschlechterspezifische Muster, die aus anderen Unternehmen bekannt sind, kennt man auch bei BI: es sind überwiegend Männer, die in den technikaffinen Abteilungen arbeiten, während Frauen überdurchschnittlich oft in der Personalabteilung oder im Marketing beschäftigt sind.
Ein zweiter großer Brocken, der derzeit auf Gettingers Schreibtisch liegt, ist das Teleworking. Die erste Woche des Lockdowns, also die Zeit nach dem 13. März, kann die Betriebsratsvorsitzende in nur drei Worten beschreiben: „das war irre“. 1800 MitarbeiterInnen mussten von jetzt auf gleich ins Homeoffice übersiedeln und dementsprechend mit Laptops und der nötigen Infrastruktur ausgestattet werden. Einen Produktionsstopp kann man sich in einem Pharmaunternehmen nicht leisten. Die positive Seite daran: „Der Lockdown hat uns einen Digitalisierungsschub ermöglicht“. Das bedeutet, man werde langfristig nicht einfach wieder zur Arbeitsroutine von vor dem 13. März zurückkehren, Teleworking soll fixer Bestandteil der Unternehmenskultur werden.
Der Europabetriebsrat als „Sprachrohr der Basis“
Aus Sicht des Betriebsrats müsse dabei sichergestellt werden, dass „Teleworking nur dort eingesetzt wird, wo es die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter auch möchte“, stellt Gettinger klar. Die Arbeit von Zuhause aus müsse auf freiwilliger Basis geschehen. Wer sich eine klare Trennung zwischen Privatem und Beruf wünscht, wem die entsprechende Infrastruktur fehlt, oder wem bei der Arbeit schlichtweg die eigenen Kinder im Nacken sitzen, die oder der müsse auch weiterhin Anspruch auf einen Arbeitsplatz im Betrieb haben.
Während draußen vor der großen Glasfront des Besprechungszimmers die Bohrmaschinen brummen und man die Expansion des Unternehmens quasi in Echtzeit mitverfolgen kann, wird auch deutlich, in welchen Dimensionen man als BI-Betriebsrätin denken muss. Das Unternehmen zählt mittlerweile über 50.000 MitarbeiterInnen, verteilt über den gesamten Globus. Der Wiener Standort ist einer der wichtigsten im gesamten Unternehmensverband. Neben dem Zentrum für Krebsforschung, das hier angesiedelt ist, werden von Meidling aus die Aktivitäten von Standorten in über 30 Ländern in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien koordiniert.
Für Gettinger bedeutet das, dass ihre Arbeit als Betriebsrätin längst nicht nur auf Meidling begrenzt ist. Neben ihrem Vorsitz in Wien ist sie auch Co-Vorsitzende des europäischen BI-Betriebsrats. Entsprechend der Betriebsgröße entsenden sämtliche europäische Standorte VertreterInnen in das europaweite Gremium, einmal jährlich kommen alle EuropabetriebsrätInnen zusammen. „Wir sehen uns auch als Sprachrohr der Basis“, erklärt Gettinger; in einem Unternehmen mit über 50.000 MitarbeiterInnen eine nicht gerade unwichtige Aufgabe, wie sie betont. Die Bauarbeiter, die man von ihrem Büro aus bei der Arbeit beobachten kann, lassen vermuten, dass zukünftig noch deutlich mehr Beschäftigte ein solches Sprachrohr brauchen.
Zur Person:
Irmgard Gettinger, 55, ist geboren und aufgewachsen in Deinzendorf bei Retz in Niederösterreich und studierte Handelswissenschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Sie lebt seit 35 Jahren in Wien und kam 1998 als Produktmanagerin zu Boehringer Ingelheim, wo sie 2004 zur Betriebsratsvorsitzenden gewählt wurde.