Probleme in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Schulen werden seit Ausbruch der Pandemie öffentlich breit diskutiert. Über die Behindertenbetreuung spricht nach wie vor kaum jemand.
Angelika Hlawaty kann die Defizite einer ganzen Branche in nur einem Wort benennen: „Anerkennung“, es mangelt an Anerkennung, sagt sie immer wieder. Hlawaty, Betriebsratsvorsitzende bei der Jugend am Werk Sozial:Raum GmbH, weiß, wovon sie spricht. Mit kurzer Unterbrechung ist sie seit 26 Jahren dort beschäftigt, strukturelle Defizite, gibt es seit jeher, „aber durch die Pandemie hat sich das alles noch einmal verschärft“. Die kurzfristige Hoffnung, für Beschäftigte und KlientInnen, sie kommt in kleinen Dosen, aber sie kommt reichlich spät – und auch eine Impfung wird an der mangelnden Anerkennung für die Beschäftigten im Sozialbereich nichts ändern.
Zur Zeit des Gesprächs mit Hlawaty ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass in Österreich der erste Lockdown in Kraft trat. Mit 16. März 2020 war hierzulande vieles anders. Straßen ebenso gespenstisch leer wie die Supermarktregale und Klopapier ebenso heißumkämpft wie Desinfektionsmittel. Und plötzlich schien sich Österreich zu erinnern, zu erinnern an die „HeldInnen des Alltags“ und die „Systemrelevanz“ der „LeistungsträgerInnen“. Hlawaty erinnert sich an diese Zeit als „die Zeit, in der noch von den Balkonen geklatscht wurde“. Der Applaus ist mittlerweile verhallt, die Rede von den leistungstragenden HeldInnen verstummt, die vielgepriesene finanzielle Anerkennung blieb größtenteils aus – nur die Pandemie, die dauert an.
Krisensitzung statt Klausur
Die Probleme und Herausforderungen gesellschaftlich relevanter Bereiche werden aktuell vor allem im Bereich Pflegeheime, Krankenhäuser und Schulen thematisiert. Hlawatys Sektor, die Behindertenbetreuung, schafft es nur selten ins mediale Rampenlicht. Insgesamt beschäftigt Jugend am Werk Sozial:Raum in Wien 1.100 MitarbeiterInnen in den Bereichen Behindertenarbeit, Kinder und Jugend, berufliche Integration und Fahrtendienst. In der Grundsteingasse in Wien-Ottakring kümmern sich rund 20 PädagogInnen um 110 KlientInnen. Die Werkstätte ist eine von rund 20 in Wien, neben Arbeits-, Kreativ- und intensiv betreuten Gruppen betreiben geistig und mehrfach behinderten Menschen hier in Zusammenarbeit mit BetreuerInnen Bibliothek und ein kleines Café. Ein Toast oder ein Stück Kuchen findet gelegentlich auch den Weg in Hlawatys Büro.
Doch mit 16. März 2020 trübten Schutzkleidung und Angst die Kaffeehaus-Atmosphäre in der Grundsteingasse. Die Angst der Beschäftigten, eine Infektion mit nach Hause oder von dort in die Arbeit zu tragen. Viele der Betreuten können aufgrund ihrer Behinderung keine Maske tragen, erklärt Hlawaty. Bisher sei man mit relativ wenig Ansteckungen durch die Krise gekommen, aber in den letzten Wochen steigen die Infektionen.
Auch ihre Arbeit im Betriebsrat wird dadurch schwieriger. Das im Herbst 2020 frischgewählte, 14-köpfige Gremium hat sich erst einmal „live“ zu Gesicht bekommen. Statt Betriebsrats-Klausuren besucht Hlawaty derzeit zweimal wöchentlich eine betriebsinterne Krisensitzung.
Wichtiger Erfolg: Sabbatical-Regelung
Wirklich aus der Ruhe zu bringen scheint sie das nicht, aus Hlawaty spricht trotz Dauerkrise die Erfahrung, keine Anspannung. Im Jahr 1994 begann sie bei Jugend am Werk zu arbeiten, kündigte Ende der 90er, um auf Reisen zu gehen – „denn ein Sabbatical gab es damals noch nicht“. Wieder in Österreich bewarb sie sich erneut bei Jugend am Werk. Mit November 2001 wurde sie als stellvertretende Betriebsratsvorsitzende freigestellt, vor fünf Jahren übernahm sie den Vorsitz. Dass ein Sabbatical mittlerweile Teil einer Betriebsvereinbarung ist, bezeichnet sie rückblickend als einen der größten Erfolge ihrer Arbeit.
Für Hlawaty war bereits als Jugendliche klar, wohin es beruflich einmal gehen sollte: „Eine Arbeit mit Sinn“ sollte es sein. Mit 17 machte die heute 51-Jährige die Fachschule für Behindertenarbeit, bewarb sich nach ihrem Abschluss bei Jugend am Werk um ein Praktikum – und ist, wie sie sagt, „dann hängen geblieben“.
Ob sie diese Entscheidung schon einmal bereut hat? Hlawaty seufzt, denkt kurz nach, dann schüttelt ihr Lockenkopf vor Lachen und mit einer Strähne im Gesicht sagt sie: „Nein, ich gehe jeden Tag wieder gerne zur Arbeit“. Finanziell und gesellschaftlich fehle es oft an „Anerkennung“ für ihren Beruf, ja, aber ein „Danke“ von KollegInnen sei stets ein „riesengroßer Motivator und dann weiß man wieder, für was man seine Kraft einsetzt“.
„Wir müssen streiken, damit wir überhaupt gesehen werden, damit sich was bewegt.“
Angelika Hlawaty
Doch abseits der mündlichen ist es die materielle Anerkennung, die Hlawaty und KollegInnen oftmals schmerzlich vermissen: „Es braucht mehr Geld, eine Arbeitszeitverkürzung, mehr Personal!“, fasst Hlawaty zusammen. Ihre Hoffnung beruht auf der 35 Stunden-Woche. Der Abschluss vom vergangenen April, eine Lohnerhöhung von 2,7 Prozent und ab 2022 eine Reduktion der Wochenarbeitszeit von 38 auf 37 Stunden, war „ein Schritt in die richtige Richtung, aber ein sehr kleiner“. Als Erfolg verbucht sie, dass die Streiks und Demonstrationen, die rund um die Kollektivvertragsverhandlungen stattgefunden haben, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die Defizite der Branche gelenkt haben: „wir müssen streiken, damit wir überhaupt gesehen werden, streiken, damit sich was bewegt“.
Ein Hoffnungsschimmer mit Verspätung
Die aktuelle Situation zeige das mehr denn je, die Corona-Krise bringt jene Probleme ans Licht, die schon vor der Pandemie akut waren, nur in intensivierter Form. Mittlerweile ist es ein Jahr her, seit der Ausnahmezustand zur Normalität wurde, „viele meiner KollegInnen sind mürbe, resignierend, denn die psychischen und physischen Belastungen sind enorm“, erzählt Hlawaty. Mit Anfang März bekamen die ersten Jugend am Werk-MitarbeiterInnen ihre lang ersehnte Impfung, ein Hoffnungsschimmer, immerhin, „aber zwei oder drei Wochen früher wäre deutlich besser gewesen, weil wir gerade in diesen Wochen starke Anstiege hatten“. Zwei KlientInnen sind an den Folgen einer Corona-Erkrankung gestorben.
„Viele meiner KollegInnen sind mürbe, resignierend, denn die psychischen und physischen Belastungen sind enorm.“
Angelika Hlawaty
Die Impfbereitschaft unter den KollegInnen ist hoch, schätzt Hlawaty, und dann werde vieles einfacher. Vieles, aber nicht alles. Denn die dicken Bretter bleiben. „Man braucht einen langen Atem, es sind kleine Schritte, aber wir müssen dranbleiben, uns selbst auf die Beine stellen, um das zu bekommen, was uns zusteht“: Anerkennung.
Zur Person:
Angelika Hlawaty, 51, ist geborene Wienerin und arbeitet nach der Absolvierung der Fachschule für Behindertenarbeit seit 1994 – mit kurzer Unterbrechung – bei Jugend am Werk. Nach 15 Jahren als Stellvertreterin wurde sie 2016 zur Betriebsratsvorsitzenden gewählt.