Ein funktionierender Sozialstaat bietet eine umfassende materielle Absicherung im Alter sowie bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall oder Invalidität.
Zu den sozialstaatlichen Leistungen gehört nicht nur die finanzielle Absicherung, auch Sachleistungen wie eine gut ausgebaute Kinderbetreuung, die Gesundheitsversorgung, das Schulsystem oder der günstige öffentliche Verkehr sind Teil eines durch die öffentliche Hand finanzierten sozialen Netzes.
Sozialstaat schützt vor Armut
Sozialstaatliche Leistungen entwickeln eine stark umverteilende Wirkung. In Österreich wären ohne Sozialleistungen und Pensionsversicherung die Einkommen wesentlich ungleicher verteilt. Statt knapp 13 Prozent wären insgesamt44 Prozent der österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet. Besonders deutlich ist die umverteilende Wirkung des Sozialstaats bei Fraueneinkommen zu erkennen. Ohne Sozialleistungen und staatliche Pensionen wäre fast die Hälfte aller Frauen in Österreich armutsgefährdet. AlleinerzieherInnen und Familien mit drei und mehr Kindern wären zu mehr als 50 Prozent von Armut betroffen.
Von der Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre gab es österreichweit einen breiten Konsens über den gesamtgesellschaftlichen Nutzen sozialstaatlicher Leistungen. Neben der Einführung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes vor 60 Jahren wurden bis in die 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts auch die Leistungen für Familien, Bildung und Arbeitsmarktpolitik kontinuierlich ausgebaut. Seit den 1980ern wurde dieser sozialstaatliche Konsenszunehmend in Frage gestellt. Der Sozialstaat geriet zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.
Die Risiken des Lebens wie etwa Arbeitslosigkeit und Krankheit, aber auch die Absicherung im Alter wurden zunehmend nicht mehr als in der gesellschaftlichen, sondern vielmehr in der individuellen Verantwortung liegend betrachtet. Der Sozialstaat wurde von der Lösung des Problems zum Problem selbst umgedeutet. Kritisiert wurden dabei nicht die noch bestehenden Lücken im sozialen Netz, sondern im Gegenteil die zu gute soziale Absicherung, die die ArbeitnehmerInnen unflexibel mache und zu Sozialmissbrauch einlade. Erste sogenannte Reformen, die jedoch allesamt Kürzungen bedeuteten, waren die logische Folge.
Die dazu verwendeten Argumente waren dabei allesandere als neu. Sie sind vielmehr in etwa gleich alt wie die Idee der Sozialstaatlichkeit selbst. Schon um 1900 schrieb die Zeitschrift „Die Industrie“: „Soziale Reformbestrebungen dagegen, die eine Beeinträchtigung der Ökonomie(…) zur Folge haben (…) sind entschieden zu bekämpfen.“ (Quelle: Talos 1981) Begründet wurde das schon damals mit der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit.
Kürzungen in Diskussion
Die schwarz-blaue Regierung schließlich erklärte die Neuordnung staatlicher und privater Verantwortung zu den größten Herausforderungen der Sozialpolitik. Eine Diskussion, die seither immer wiederaufflammt – zuletzt rund um das Thema Pensionen.
Die Flüchtlingskrise und die politisch bewusst inszenierte Neiddebatte um Sozialleistungen für Flüchtlinge habenden VerfechterInnen von Kürzungen der Mindestsicherung neuen Drive verliehen – mit realen Auswirkungen. Im ersten Schritt betreffen diese Einschnitte „nur“ Flüchtlinge. Dass es dabei bleiben wird, darf jedoch bezweifelt werden.
Der österreichische Sozialstaat ist bei weitem nicht perfekt, sondern in vielen Bereichen durchaus noch ausbaufähig. Durch die steigende Lebenserwartung ist etwa bei der Pflege und Betreuung ein dringender Handlungsbedarf entstanden. Dennoch garantiert der österreichische Sozialstaat Menschen aus allen sozialen Schichten einen fairen Zugang zu wichtigen Ressourcen und damit eine gute soziale Absicherung. Er verteilt um von den Gesunden zu den Kranken, von den Menschen ohne Kinder zu den Familien, von den Menschen mit Arbeit zu jenen, die im Augenblick ohne Job oder bereits in Pension sind. Fast jede und jeder wird im Laufe des Lebens Nettozahlerin und dann wieder Nettoempfänger im System der sozialen Sicherheit.
Wer durch das Arbeitslosengeld abgesichert ist, hat bessere Chancen, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen, als jemand, der bei Jobverlust die Existenzgrundlage verliert. Wenn auch Kinder aus ärmeren Haushalten eine gute Ausbildung erhalten, dann sind auf dem Arbeitsmarkt mehr Fachkräfte verfügbar. Wer durch die Leistungen der allgemeinen Krankenversicherung schnellergesund wird, gewinnt an Lebensqualität und steht dem Arbeitgeberrascher wieder zur Verfügung. Ein niederschwelliger Zugang zum öffentlichen Verkehrsnetz ermöglicht auch Ärmeren, beruflich mobil und flexibel zu sein.
Die Umverteilungswirkung sozialstaatlicher Leistungen trägt zu mehr Zufriedenheit und Stabilität bei und das nutzt der gesamten Gesellschaft. Die UngleichheitsforscherInnen Kate Picket und Richard Wilkinson haben das auch empirisch bestätigt: Gleichere Gesellschaften schneiden bei Lebenserwartung, psychischen Erkrankungen, Gewalt und Analphabetismus wesentlich besser ab, als jene, in denen die Einkommensunterschiede größer sind. Die Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise haben zudem gezeigt, dass Staaten mit einem hohen sozialstaatlichen Niveau wesentlich krisenfester waren als Staaten, die bereits vor der Krise sozialstaatliche Leistungen gekürzt hatten. Nicht nur MindestsicherungsempfängerInnen und Arbeitslose profitieren vom Sozialstaat, auch Wohlhabenden und UnternehmerInnen nützt es, wenn Risiken und Lasten aufgeteilt werden. Sie profitieren ebenso wie die „Armen“, wenn die Kriminalität niedrig, das Ausbildungsniveau sowie die Zufriedenheit der ArbeitnehmerInnen dagegen hoch ist.
Nutzen des Sozialstaats
Seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise wird der ökonomische Nutzen des Sozialstaats wieder stärker wahrgenommen. Selbst die OECD bringt mittlerweile zum Ausdruck, dass eine faire Verteilung und eine stabile soziale Absicherung zur Überwindung der Krise beitragen. Repräsentative Umfragen belegen zudem, dass in der Bevölkerung die soziale Absicherung nach wie vor als zentrale staatliche Aufgabe gesehen wird und hohe Akzeptanz erfährt. Wer Kürzungen von Sozialleistungen zum politischen Programm erklärt, hat daher letztlich wenig zu gewinnen und viel zu verlieren. Denn das Vertrauen in eine gute soziale Absicherung ist auch die Basis für Aufgeschlossenheit, Innovationskraft, Risikobereitschaft und damit auch für wirtschaftlichen Erfolg.