Immer noch werden Kinder in Österreich im Alter von zehn Jahren in verschiedene Schulen geschickt und damit für unterschiedliche Bildungswege und Karrieren vorprogrammiert. Eine zu frühe und sozial unfaire Selektion.
Im Februar war in den Schulen für 10-14-Jährige Hochbetrieb: Einschreibung, Vorstellungsgespräche, Kampf um begehrte Plätze an Schulen mit gutem Ruf. Das Semesterzeugnis der 4. Volksschulklasse entscheidet, wer danach welche Schule besucht. Mit einem „Dreier“ in Deutsch oder Mathe geht sich der Platz am Gymnasium nicht aus. Das macht nicht nur enormen Notenstress in der Volksschule, sondern stellt auch die Weichen für den späteren Berufs- und Bildungsweg. Zu früh, darüber sind sich ExpertInnen einig.
„Die Entscheidung für eine Schulform sollte eigentlich von den Interessen und Fähigkeiten der Kinder abhängen – tatsächlich dreht sich aber alles um Schulleistungen und vor allem Bildungswünsche der Eltern“, stellt Thomas Kreiml von der Bildungsabteilung in der GPA-djp fest.
Ärztin oder Baumeister?
Fragt man Lina, 11, nach ihrem Berufswunsch, so antwortet sie ohne zu zögern und selbstbewusst: Ärztin. Lina geht in die erste Klasse Gymnasium, wird ab der dritten Klasse Latein lernen, und für ihre Eltern steht jetzt schon fest, dass Lina dort die Matura ablegen wird. Linas Mutter ist selbst Kinderärztin, ihr Vater Geschäftsführer einer Großhandelskette.
Max, 9, hat auch schon einige Ideen für seine Zukunft: Am liebsten Baumeister – oder Gärtner. Vielleicht aber doch Jongleur oder Pianist, denn das macht auch Spaß. Ob er nach der Volksschule in die AHS oder KMS (Kooperative Mittelschule) oder Hauptschule kommt, interessiert ihn nicht so sehr, Haupsache, er hat dort guten Werkunterricht und einen netten Musiklehrer. Entscheiden werden das wohl seine Eltern – und das Schulzeugnis.
Werden Lina und Max ihre Talente und Potentiale tatsächlich ausschöpfen können? Und was ist mit den Kindern, die in der Volksschule noch davon träumen, Feuerwehrmann, Schauspielerin oder Rockstar zu werden?
Reformen überfällig
Während viele andere Länder ihr Schulsystem längst reformiert haben, wird die frühe Trennung der SchülerInnen in Hauptschule oder Gymnasium (AHS) hierzulande weiterhin aufrecht erhalten.
Mit allen bekannten Konsequenzen: „Das österreichische Bildungssystem selektiert aufgrund sozialer Kriterien und lässt Potenziale, Talente und Begabungen liegen“, kritisiert Bildungsexperte Kreiml.
Seit den 1960er Jahren weisen Studienergebnissen darauf hin, dass Entscheidungen über den Bildungsweg weniger von den Begabungen der Kinder als vielmehr von Rahmenbedingungen und Überlegungen der Eltern und LehrerInnen abhängen. Grundlegende Reformen – ebenfalls seit den 1960er Jahren gefordert – sind hierzulande längst überfällig.
Soziale Selektion
Maßgeblich für den Bildungsweg der österreichischen Kinder sind immer noch der Bildungsgrad der Eltern und ihre finanziellen Ressourcen. Die Vorteile höherer Schulbildung liegen auf der Hand: Eine qualitativ gute Ausbildung bringt bessere Chancen am Arbeitsmarkt und bessere Gehaltsaussichten.
Statistiken zeigen, dass Eltern, die für ihre Kinder das Gymnasium als Bildungsweg wählen, fast ausschließlich die Matura für ihre Kinder als Bildungsziel anstreben; bei HauptschülerInnen ist dies nur rund die Hälfte der Eltern. Dabei hängen die Bildungsziele der Eltern für ihre Kinder stark von ihrer eigenen Bildung ab („Statuserhalt“): „Wer selbst eine Matura absolviert hat, ist sich mehrheitlich der Bedeutung eines höheren Bildungsabschlusses bewusst und strebt die Matura oder einen akademischen Abschluss auch für seine Kinder an“, weiß Kreiml. Kinder, deren Eltern jedoch einen niedrigeren Abschluss als die Matura haben, werden bei weitem seltener für dieses Bildungsziel vorgesehen.
Ganz entscheidend ist aber auch die ökonomische Situation der Familien: Kinder von Besserverdienern besuchen tendenziell höhere Schulen, Kinder, deren Eltern niedrigere Einkommen beziehen, Hauptschulen. Kreiml sieht hier eine eklatante Schwachstelle des Systems: „Ein Bildungssystem, das sich bestmögliche Bildung für die gesamte Bevölkerung und die individuelle Förderung von Fähigkeiten als Ziel setzt, darf sich nicht auf die Unterstützungsleistungen der Eltern, ihre finanziellen Möglichkeiten und ihre Ansichten über den Wert von Bildung verlassen.“
Schulpraxis ändern
Was bedeutet das konkret für Lina und Max? „In der Schulpraxis sollten die Kinder verstärkt individuell gefördert werden, entsprechend ihren Stärken und Schwächen“, fordert Kreiml. „Die Qualität darf dabei keine Frage des Schultyps, sondern muss eine der pädagogischen Prinzipien und der Ressourcenausstattung sein.“ In einer Schule, die Talente fördert und sich um das Weiterkommen aller bemüht, entdeckt Lina vielleicht noch ihren grünen Daumen und wird glückliche Gartenarchitektin, während Max die Möglichkeit bekommt, Musikpädagogik zu studieren.
„Unsere zentrale Forderung ist natürlich die nach einer gemeinsamen Schule für alle SchülerInnen bis zum Ende der Schulpflicht. Beispielgebend dafür ist die Neue Mittelschule, die jedoch nicht als neue Hauptschule enden darf“, betont Kreiml. Im städtischen Bereich werden vielfältige Erfahrungen seit Jahren auch an den KMS gesammelt. „Die gemeinsame Schule sollte als qualitativ hochwertige Ganztagsschule geführt werden, wo Lernen, Freizeit und Üben in Form von Lernhilfe und Förderangeboten über den ganzen Tag verteilt abwechselnd stattfinden.“
Für die Verwirklichung braucht es darüber hinaus noch eine Reihe unterstützender Maßnahmen wie die Verbesserung der Ausbildung der PädagogInnen (LehrerInnen und FreizeitbetreuerInnen), deutlich mehr SchulpsychologInnen und SchulsozialarbeiterInnen als zur Zeit im Einsatz sind, und die entsprechenden infrastrukturellen Maßnahmen zur Schaffung zeitgemäß gestalteter Schulen (Lernräume, Arbeitsplätze für PädagogInnen, Kantine, Kreativ- und Sporträume, etc.).
Zu teuer? „Wenn wir bedenken, wieviel Geld derzeit ausgegeben wird, um die Missstände des aktuellen Systems aufzufangen – von öffentlichen Bildungsmassnahmen für niedrig qualifizierte Schulabbrecher bis hin zu privaten Nachhilfestunden – so scheint mir das eine gute und sichere Investition zu sein“, verspricht Kreiml.
Denn Bildung erhöht nicht nur individuell die Chancen in der Arbeitswelt, sie schafft auch, als wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe, die Grundlage für unsere demokratische Gesellschaftsform.
PISA und andere Studien haben ans Tageslicht gebracht, dass Reformen im Bildungssystem überfällig sind. Die aktuelle Diskussion geht ÖGB und Gewerkschaften aber nicht weit genug. Im Jahr 2011 ist daher im ÖGB die Bildung der Jahresschwerpunkt