Arbeitskultur. Dass interessante Jobs nur in Sechzig-Stunde-Wochen geleistet werden können, ist ein dummer Mythos.
„Es ist Mittag. Ich bin zwar erst eine Stunde in meinem supermodernen Designerbüro, aber was soll’s, ich bin schließlich der Boss. Ich habe ja gute Mitarbeiter, die sich auskennen. In einer Stunde geht mein Flieger nach Mailand. So wie es aussieht, kann ich bald heim zu meiner Familie.“
Sie wohnt in einem Haus am Meer, hat zwei Kinder, sie ist Chefin einer Modefirma, und sie arbeitet nur ein paar Stunden am Tag: So stellt sich ein zwölfjähriges Mädchen ihre Zukunft vor. Sie hat darüber einen Aufsatz geschrieben, mit dem Titel „Ein Tag in meinem Leben in 20 Jahren“.
Illusionen?
Über soviel Naivität kann man, wenn man will, natürlich zunächst einmal lachen. Eine Chefin, die bloß ein paar Stunden am Tag arbeitet? Die sich darauf freut, „bald heim“ zu gehen, und tatsächlich dort ankommt, bevor das Sandmännchen im Fernsehen beginnt? Wie naiv! rufen da die Besserwisser. Unmöglich! Keine Chance!
Teilzeitarbeit – das mag für einen Taxifahrer okay sein, für eine Telefonistin im Callcenter, oder für die Kassierin im Supermarkt. Aber für eine Führungskraft sei Teilzeit ganz und gar undenkbar. Wer einen spannenden, verantwortungsvollen Job hat, müsse völlig in der Arbeit aufgehen, heißt es. Müsse allzeit anwesend, grenzenlos flexibel und rund um die Uhr erreichbar sein. Müsse entweder auf ein Privatleben verzichten – oder jemanden finden, der ihm die Organisation des Privatlebens abnimmt.
Es geht nicht anders. Das ist der Deal. Und weil Frauen diesen Deal seltener eingehen wollen als Männer, gibt es eben so wenige Frauen in Führungsjobs. Selber schuld.
Defizite in der Arbeitswelt
Mit diesem Denken sind wir allerdings in eine Sackgasse geraten. Denn wenn wir uns die Karrierewege der Entscheidungsträger anschauen, können wir ins Zweifeln kommen: Wie gut sind unsere Auswahlmechanismen eigentlich? Haben sie wirklich die fähigsten Kräfte nach oben gespült?
Speziell was Frauen betrifft, wird hier das Defizit offensichtlich. Denn es ist wohl tatäsächlich so, dass viele Frauen den „Aufstieg um jeden Preis“ nicht als verlockende Lebensperspektive empfinden. So gehen sie auf dem Weg nach oben verloren. Doch genau damit verzichten Unternehmen, Wissenschaft und Institutionen auf einige ihrer besten Köpfe. Und verschwenden Ressourcen, Fähigkeiten und Energie, die sie gewinnbringend nutzen könnten.
Wer Gleichberechtigung der Geschlechter in der Arbeitswelt will, braucht daher auch eine Änderung der Arbeitskultur. Das beginnt bei der Ideologie der Unersetzbarkeit.
Arbeiten rund um die Uhr
Der Anwesenheitskult ist in vielen Büros noch ungebrochen. Soll heißen: Wer am wichtigsten ist, hat die meisten Termine und ist am längsten da, vom Arbeitsfrühstück bis zum mitternächtlichen Networking-Drink an der Bar. Stress gehört zum guten Ton; und jede Führungskraft, die etwas auf ihr Image hält, wird zu jeder Tages- und Nachtzeit eifrig versichern, sie hätte grad leider „überhaupt keine Zeit“.
Aber was beweist das? Nicht viel. Außer, dass manche Führungskräfte schlecht organisieren und delegieren können. Dass es ihnen schwerfällt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Dass sie sich in Kleinkram und sinnlosen Ritualen verzetteln, um womöglich den großen Entscheidungen auszuweichen.
Drehen wir die Sache einmal um: Ein Fünf-Stunden-Tag erzeugt mit Sicherheit weniger Leerläufe als ein Zehn-Stunden-Tag. Ein Fünf-Stunden-Tag zwingt Führungskräfte, selbst Prioritäten zu setzen, statt sich von Sachzwängen treiben zu lassen. Und die weitblickenderen, kreativeren strategischen Entscheidungen trifft am Ende des Tages wohl eher ein Mensch, der auch außerhalb des Büros Gelegenheit hatte, Erfahrungen zu machen.
Umdenken
Österreich kann hier von den skandinavischen Ländern vieles lernen. Zunächst werden dort konsequent beide Geschlechter für Betreuungsaufgaben in der Familie in die Pflicht genommen, auch von Seite der Arbeitgeber. Gleichzeitig jedoch kann man beobachten, dass sich damit schleichend die Bewertung von Leistungsbereitschaft und Qualifikationen verschiebt. Was zum Beispiel bedeutet es, wenn eine Führungskraft nebenher Zeit mit seinen Kleinkindern verbringt? Bei uns würde man sagen: Das ist ein Klotz am Bein, der eine Führungskraft ablenkt und am effizienten Arbeiten hindert. In Skandinavien würde man sagen: Es zeigt, dass eine Führungskraft bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, Erfahrungen zu machen, und sich Unbekanntem auszusetzen. Diese Eigenschaften gehören im Unternehmenskosmos nicht bestraft, sondern im Gegenteil mit Aufstieg belohnt.
Was uns zum eingangs erwähnten zwölfjährigen Mädchen mit seinem Schulaufsatz zurückführt. An ihrer Zukunftsvision lässt sich ablesen, dass sie zur Führungskraft wahrscheinlich Talent hat. „Ich habe ja gute Mitarbeiter, die sich auskennen“ spricht für exzellente Organisationsqualitäten, für die Fähigkeit zu delegieren, für gute Menschenkenntnis und ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihren Angestellten.
Ja, Mädchen, nimm den Flieger nach Mailand. Du machst das ganz richtig so.