In den letzten Tagen hat sich überdeutlich gezeigt, wie wichtig ein gut ausgebautes Gesundheitswesen ist. Drastische Einsparungen, wie in Großbritannien wirken sich jetzt besonders dramatisch aus.
Die Coronakrise zeigt, was gesellschaftlich wirklich wichtig ist. Das ist ein oft gehörter Satz der letzten Tage. Beschäftigte im Gesundheitswesen werden beklatscht und mit Dank überhäuft. Das ändert aber nichts daran, dass Gesundheitssysteme überall in Europa über viele Jahre zu Tode gespart wurden. Großbritannien, wo die dortige Regierung ursprünglich hunderttausende Tote in Kauf nehmen wollte, um das Land nicht herunterfahren zu müssen, ist ein besonders negatives Beispiel. Premierminister Boris Johnson, der ursprünglich auf „Herdenimmunität“ setzte, ist nun selber am Corona-Virus erkrankt.
Erschütternde Berichte aus Großbritannien zeigen ÄrztInnen, die im Internet einen Crowdfunder gestartet haben, um Schutzanzüge und Schutzmasken für die KollegInnen kaufen zu können. 100.000 Stellen sind im britischen Gesundheitswesen unbesetzt, davon 44.000 Pflegekräfte. Um der Coronakrise zu begegnen, sah sich die britische Regierung gezwungen auf Ehrenamtliche zu setzen. Über 500.000 Menschen folgten einem Aufruf, sich zu melden um ohne Entlohnung im Gesundheitswesen mitzuarbeiten. Das System ist kaputt, die Bevölkerung darf es mit gelebter Solidarität ausbaden.
Ein Gesundheitswesen für alle
Dabei kann gerade die Geschichte des britischen Gesundheitswesens viel nützliches für die jetzige, von Corona geprägte Zeit erzählen. Sicher, heute wird es oft als Paradebeispiel für die Folgen von Unterfinanzierung und Privatisierung herangezogen. Jedes Jahr kommt es zu so genannten „Winterkrisen“ weil während der Grippewellen nicht genug Kapazitäten da sind. 40 Prozent der zur Verfügung stehenden Akutbetten in den Krankenhäusern wurden in den vergangenen 30 Jahren eingespart.
In der Onlinezeitung „Lowdown NHS“ schrieb der ehemalige Regionaldirektor für das öffentliche Gesundheitswesen im nordenglischen Cumbria John Ashton: „Wir haben es zugelassen, dass Sparmaßnahmen unser öffentliches Leben und unsere Politik derart dominiert haben, dass sonst nichts mehr zählt. Das hat zu einem Ausbluten unserer öffentlichen Dienstleistungen und unseres Gesundheitswesens geführt. Wir haben nun weniger Betten und Personal und die Widerstandskraft des Systems wird nun auf die extremste denkbare Weise herausgefordert.“
Doch der Ursprung des britischen staatlichen britischen Gesundheitswesens heutiger Zeit liegt in den Jahren nach Ende des zweiten Weltkrieges. Millionen arbeitender Menschen waren nicht mehr bereit in ein von Not und Armut geprägtes Leben zurückgestoßen zu werden, nachdem ihnen im Krieg so viele Opfer abverlangt worden waren. Sie wählten eine Labour-Partei an die Regierung welche zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen setzte, darunter ein massives soziales Wohnbauprogramm sowie die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien.
1948 gründete Gesundheitsminister Nye Bevan den staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service NHS). Das Versprechen: Jeder in Großbritannien lebende Mensch sollte von nun an kostenlosen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Finanziert wurde das Projekt aus Steuern. Profit dürfe dabei keine Rolle spielen schrieb Bevan in seiner Broschüre „in place of fear“ – „an Stelle der Angst“. Seuchenbekämpfung etwa sei eine kollektive Aufgabe von Frauen und Männern die es dafür auch entsprechend zu entlohnen gelte. „Fanatischen Unterstützern einer auf Wettbewerb orientierten Gesellschaft“ erteilte Bevan eine entschiedene Absage.
Vielleicht bliebt Bevan auch deshalb nicht lange Gesundheitsminister. Schon 1952 trat er zurück, auch weil seine eigene Partei ihm in den Rücken fiel. Die sozialdemokratische Labour-Regierung führte Zahnarztgebühren und Gebühren für Brillengestelle ein. Später folgten Rezeptgebühren. Heute ist es fast unvorstellbar, dass Großbritannien einst ein Gesundheitswesen hatte, wo all diese Dinge bei Bedarf kostenlos zur Verfügung standen.
Das neoliberale Rad – kann man es zurückdrehen?
Seit den 1980er Jahren wurde massiv an der Spar- und Privatisierungsschraube gedreht. Pensionistenwohnheime wurden privatisiert, gute Pflege kriegt seither nur, wer es sich leisten kann. Im Gesundheitswesen wurde ein „interner Markt“ und somit ein künstlicher Wettbewerb eingeführt. Krankenhäuser müssen gegeneinander um Aufträge buhlen die sie nur bekommen, wenn sie sich unterbieten. Das Reinigungspersonal wurde ausgelagert. Darunter litt die Hygiene, seit Jahrzehnten werden sind PatientInnen und Pflegekräfte durch so genannt „Superviren“ bedroht.
Unter den New Labour Regierungen von Tony Blair wurde der Neubau von Krankenhäusern privatisiert. Seither müssen Krankenhäuser quasi Miete an Immobilienkonzerne zahlen. Das Ergebnis ist eine massive und stetig ansteigende Verschuldung des Gesundheitswesens. 2013 lag sie bei 79 Milliarden Pfund, 60 Krankenhäuser waren deshalb von Schließung bedroht. 2015 wurden Investitionen in die NHS-Infrastruktur komplett eingestellt. Krisenzeiten wie jetzt durch Corona werfen auf die Auswirkungen solcher Entwicklungen ein besonders scharfes Licht. So werden derzeit Ressourcen von langfristigen Pflegemaßnahmen auf Maßnahmen zur Notfallversorgung umgeleitet. Verwundbare Bevölkerungsgruppen, PensionistInnen und Menschen mit Behinderungen bleiben auf der Strecke. Der in Menschenleben zu zahlende Preis dafür kann schon bald ein hoher sein. Auch ohne Corona geht in Großbritannien die Lebenserwartung für Menschen aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten zurück.
Doch aus österreichischer Sicht gibt es keinen Grund für Arroganz. Einsparungen, fehlendes Personal und ein Mangel an dringend nötiger Schutzausrüstung sind auch hier Thema. Noch im Juni 2019 warnte die Arbeiterkammer: „Eine der brennendsten aktuellen Fragen ist die zunehmende Personalknappheit in den Gesundheitsberufen. Die Antwort auf diese Herausforderung wird entscheidend dafür sein, ob die Menschen in Österreich auch in Zukunft mit einem ausreichenden Ausmaß an Gesundheits- und Langzeitpflegeleistungen rechnen können.“ Hoffentlich können sie das. Spätestens mit Ende der Corona-Krise wird auch in Österreich eine ideologische Debatte über den Zustand des Gesundheitswesens losbrechen. Für die Gewerkschaften liegt hier eine Chance – die Chance das neoliberale Rad zurückzudrehen und für eine angemessene Ausfinanzierung einzutreten.