Die Corona-Krise hinterlässt dramatische Spuren am Arbeitsmarkt. Wie sind die bisherigen Maßnahmen einzuschätzen, was droht und wie könnte noch gegengesteuert werden? Wir haben mit Oliver Picek gesprochen, dem Arbeitsmarktexperten und Chefökonomen des Momentum Instituts.
KOMPETENZ: Wir erleben derzeit dramatische Zustände am Arbeitsmarkt. Binnen nicht einmal zwei Wochen stieg die Arbeitslosigkeit um 170.000 Personen. Ausgang waren bereits 400.000 Arbeitslose (inklusive Schulungsteilnehmer).
OLIVER PICEK: Solch einen Anstieg haben wir in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie erlebt. Der Beginn der Einschränkungen und Betriebsschließungen, der Tag Null von Corona aus wirtschaftlicher Sicht, war der 15. März. Den haben wir noch mit knapp 376.000 Arbeitslosen begonnen. Denn zwischen Ende Februar und Mitte März hatte sich die Arbeitslosigkeit wie jedes Jahr noch gut entwickelt und war um 20.000 gesunken.
Dann kam ein Anstieg um 179.000 Menschen in nicht einmal zwei Wochen. Aktuell (29.3.) liegen wir damit bei rund 550.000 Personen. Um mehr als 60.000 Menschen über der höchsten Anzahl an Arbeitslosen, die wir je hatten. Und das ist erst der Anfang.
KOMPETENZ: Wir beurteilst du das Instrument der Kurzarbeit um Beschäftigung zu sichern? Wie hat die Politik reagiert um Unternehmen zu erhalten und Beschäftigte abzusichern?
OLIVER PICEK: Anfänglich war die Reaktion der Regierung zu langsam. Spätestens am Mittwoch vor dem Tag Null war allen in der Regierung klar, dass die meisten Geschäfte ab Dienstag (17.3.) zusperren oder zugesperrt werden. Dann vier Tage zu brauchen, um ein Hilfspaket von 1 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in der größten Ausnahmesituation seit 1945 zu präsentieren – das war schwach. Zum Glück haben die Sozialpartner schneller geschalten und realisiert, was Betriebsschließungen bedeuten und die Kurzarbeit recht schnell auf den Weg gebracht. Mit den Nachbesserungen ist sie dann auch ein wirklich gutes Modell geworden. Da zeigt sich die Expertise der Sozialpartner. Die Regierung hat gut daran getan, sie einzubinden.
„Zum Glück haben die Sozialpartner schneller geschalten und realisiert, was Betriebsschließungen bedeuten und die Kurzarbeit recht schnell auf den Weg gebracht.“
Oliver Picek
Leider kann man das gleiche Lob für einige entscheidende andere Maßnahmen der Regierung nicht aussprechen. Die Steuerstundungen für die Unternehmen waren zwar sehr gut, aber der Rest wirkt oft zu undurchdacht. Es gibt unnötig einschränkende Kriterien, sodass viele gar nichts bekommen können. Der Härtefallfonds für Kleinstunternehmen ist zu klein, und der Notfallfonds noch gar nicht definiert. Bei den Überbrückungskrediten muss die Bank wiederum mitspielen, was sie nicht immer tut. Zu einer Aussage wie der französische Präsident Macron, dass Geschäftslokal-Mieten nicht bezahlt werden müssen, konnte sich die Regierung auch nicht durchringen. Wenn diese Unentschlossenheit so weiter geht und nicht noch durchdachte Nachbesserungen kommen, wird das vielen Unternehmen noch das Überleben kosten, und mit ihnen werden viele Arbeitsplätze verschwinden.
KOMPETENZ: Trotz Kurzarbeit ist dieser Anstieg bislang beispiellos. Was sollte jetzt gemacht werden, um arbeitslose Menschen besser abzusichern?
OLIVER PICEK: Für die Absicherung der Menschen gegen Existenznot braucht es ein „Corona-Ausgleichsgeld“. Der Grundgedanke ist, dass diese Menschen selbst keine Schuld trifft, dass sie arbeitslos sind. Außerdem hat man als Arbeitsloser in nächster Zeit keine Chance auf einen Job. Alle Betriebe sind ja zu, Einstellungen finden nicht statt – bis auf ein paar ganz wenige Erntehelfer oder Fleischhacker vielleicht. Darum braucht es ein höheres Arbeitslosengeld, dass die Menschen durch die Krise trägt, ohne dass sie Angst haben müssen um ihre finanzielle Situation. Lebensmittel, die Wohnungsmiete, Seife, Masken, Desinfektionsmittel – das müssen sich die Leute kaufen können ohne zweimal darüber nachdenken zu müssen.
KOMPETENZ: Kurzarbeit bringt den Betroffenen einen weitgehenden Erhalt ihrer Einkommen. Anders sieht es bei den Menschen aus, die arbeitslos werden. Die bekommen nur 55 Prozent ihres Nettoeinkommens.
OLIVER PICEK: Genau, zwischen 55 Prozent und bestenfalls 60 Prozent, außer sie haben schon vorher zu wenig verdient, dann werden sie auf die „Ausgleichszulage“, auf 966,65 Euro (für Alleinstehende) aufgestockt. Daher sollte das Arbeitslosengeld von 55 Prozent des vorherigen Einkommens auf zumindest 70 Prozent erhöht werden. Das kostet nicht viel, aber bringt den Menschen mehr Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Außerdem darf es in dieser Zeit kein Auslaufen des Arbeitslosengelds mehr geben, das die Leute in die Notstandshilfe mit noch weniger Geld zwingt. Für die ohne Anspruch braucht es einen raschen Zugang in die Mindestsicherung ohne Vermögensprüfung für die Zeit der Krise. Deutschland hat das schon vorgemacht. Sie brauchen zudem eine höhere Mindestsicherung – mindestens 1000 Euro netto während der Krise.
KOMPETENZ: Die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen in ihrer neuen Prognose von einem scharfen Einbruch, einer kurzen Krise und einer raschen Erholung aus. Das klingt optimistisch.
OLIVER PICEK: Ist es auch. Die beiden Direktoren von WIFO und IHS haben extra betont, dass eigentlich zum jetzigen Zeitpunkt keine seriöse Prognose möglich ist. Anstatt sie abzusagen, haben sie eine optimistische Prognose vorgelegt um „verantwortungsvoll“ zu agieren. In der Prognose haben sie daher mit einem Ende der wirtschaftlichen und sozialen Beschränkungen mit Mitte/Ende April gerechnet, und auch nur geringe Einbußen unterstellt. Ich halte ein pessimistischeres Szenario für wahrscheinlicher. WIFO und IHS gehen ohne es zu erwähnen auch davon aus, dass die Schulen im Laufe des Mai wieder öffnen. Das erscheint mir aus heutiger Sicht als unwahrscheinlich.
KOMPETENZ: Wie hoch schätzt du das Absturzpotenzial am Arbeitsmarkt ein, wenn die Krise nicht binnen weniger Woche überstanden ist? Wie viele Arbeitsplätze können noch gefährdet sein?
OLIVER PICEK: Genaue Schätzungen gibt es im Moment nicht wirklich. Alles kommt auf die Dauer der Maßnahmen an. In einer groben Analyse letzte Woche sind wir auf mindestens 650.000 weitere akut gefährdete Arbeitsplätze gekommen. Wenn das Virus noch länger wütet und keine Öffnungen von Geschäften passieren, kann diese Zahl aber leicht auf über eine Million steigen.
„In einer groben Analyse letzte Woche sind wir auf mindestens 650.000 weitere akut gefährdete Arbeitsplätze gekommen.“
Oliver Picek
Eigentlich ist es aktuell mit den Arbeitslosenzahlen so wie mit der berichteten Zahl der Corona-Erkrankten: Sie sind um mehrere Tage, wenn nicht sogar Wochen hinten nach. Zehntausende bereits gekündigte Leute tauchen noch nicht in der Arbeitslosen-Statistik auf, weil sie sich erst nach der Kündigungsfrist am ersten Tag ihrer echten Arbeitslosigkeit beim AMS arbeitslos melden. Übliche Kündigungsfristen in Kollektivverträgen sind zwei Wochen (Gastronomie), meistens vier und manchmal sechs Wochen. Anfang April, Mitte April und Anfang Mai sollten wir daher noch einmal große Wellen sehen. Wieviel davon die Kurzarbeit noch auffangen kann, ist im Moment die große Unbekannte.
KOMPETENZ: Was müsste noch getan werden, damit wir diese Krise gut überstehen und möglichste viele Menschen wieder rasch in Beschäftigung kommen?
OLIVER PICEK: Aktuell könnte man eine „Beschäftigungsaktion Corona“ überlegen – zumindest für einen kleinen Teil der Arbeitslosen. Ein großer Teil der Arbeit, die Milizsoldaten oder zwangsverlängerte Zivildiener machen sollen, können auch ordentlich kollektivvertraglich bezahlte Arbeiter und Angestellte mit einer Corona-Gefahrenzulage erledigen. Das Expertenpapier, auf Grund dessen die Regierung am Montag (30.3.) die Maskenpflicht im Supermarkt verkündet hat, hat einige Empfehlungen. Übersetzt man diese in konkrete Tätigkeiten und notwendiges Personal, so würde dies bedeuten: Supermarkt- und Park-Ordner bei den Eingängen, die jederzeit freundlich auf das Halten von Abstand aktiv hinweisen und Häufungen von Menschen regulieren. Dafür brauche ich nicht Gruppen von 20 Polizisten, die alle paar Stunden einmal durchpatrouillieren. Verteiler von Schutzmasken an öffentlichen Orten wie der U-Bahn. Ein Versorgungsdienst mit Lebensmitteln, damit auch dort für ältere Mitmenschen eingekauft wird, wo die Nachbarschaftshilfe nicht funktioniert. Alltagsbegleiter, die alleinstehende einsame ältere Menschen anrufen, um sich nach dem Rechten zu erkundigen und einfach nur ein wenig zu tratschen. Das wäre ein kleines Programm im Verhältnis zur Zahl der Arbeitslosen, der aber das Prinzip öffentlicher Beschäftigung wieder einführt, das sich nach der Krise für die zweifelsohne viel höhere Anzahl Langzeitarbeitsloser in anderen gesellschaftlich sinnvollen Berufen nahtlos fortsetzen ließe. Leider kam bisher von der Arbeitsministerin in dieser Hinsicht gar nichts.
„Nach der Krise muss der Staat eine größere und aktivere Rolle in der Wirtschaft spielen, weil der Privatsektor nicht für ausreichend Arbeitsplätze und Wachstum wird sorgen können.“
Oliver Picek
Nach der Krise muss der Staat eine größere und aktivere Rolle in der Wirtschaft spielen, weil der Privatsektor nicht für ausreichend Arbeitsplätze und Wachstum wird sorgen können. Ein Konjunkturprogramm muss öffentliche Investitionen enthalten, aber auch dauerhaft höhere staatliche Beschäftigung, Die Staatsausgaben müssen steigen, weil wir mehr Personal im Gesundheits- und Pflegesektor brauchen, aber auch in anderen ausgehungerten Bereichen wie der Justiz oder dem Bundesheer. Eigentlich zieht sich der verfehlte Sparkurs überall durch. Man stelle sich vor, das Bundesheer hätte die Heeresspitäler noch. Wir könnten sie gerade dringend gebrauchen.
KOMPETENZ: Ist davon auszugehen, dass nach der Coronakrise die meisten Arbeitsplätze, die gestrichen wurden, wieder besetzt werden?
OLIVER PICEK: Die meisten schon. Je länger die Krise dauert, umso mehr permanente Schäden gibt es allerdings. Weniger Umsätze der Unternehmen während ein paar Monaten bedeutet einen Verlust, schlechtere Bilanzen, höhere Verschuldung oder gar Insolvenz. Selbst wenn es viele überstehen werden, so stehen die meisten Betriebe am Ende mit höheren Schulden oder viel weniger Rücklagen da. Als Resultat werden diese Unternehmen kaum Investitionen tätigen, weil das Geld dafür fehlt oder sie eher Sparpolster aufbauen wollen. Die vielen Arbeitslosen, aber auch Kurzarbeiter, bekommen jetzt weniger Einkommen, das dem nachholenden Konsum nach der Krise fehlen wird. Ein zwischendurch Arbeitsloser, dem drei Monatsgehälter fehlen, wird nicht sich nicht alles am Ende der Krise einfach nachkaufen können.
KOMPETENZ: Die Absicherung für EPUS und Soloselbständige ist vergleichsweise niedrig. Hast Du Vorschläge wie diese Personengruppe besser abgesichert werden kann?
OLIVER PICEK: Unmittelbar jetzt für die Krise sollte der Härtefallfonds aufgestockt werden. 2000 Euro pro Person pro Monat reichen für viele nicht. Oft hängen bei EPUs zudem noch geringfügige Angestellte dran, die auch ihr Einkommen verlieren, und weder im Härtefallfonds noch in der Kurzarbeit berücksichtigt werden. Die Krise wäre auch ein guter Anlass, um endlich die neuen Selbstständigen als Pflichtversicherte in die Arbeitslosenversicherung zu integrieren.
„Die Krise wäre auch ein guter Anlass, um endlich die neuen Selbstständigen als Pflichtversicherte in die Arbeitslosenversicherung zu integrieren.“
Oliver Picek
KOMPETENZ: Derzeit übernimmt der Staat in vielen Bereichen die Lohnkosten der Unternehmen, stundet Steuern und gewährt Unterstützungen. Insgesamt sind 38 Mrd. EUR bereitgestellt. Das erhöht wieder der Staatsschulden. Wie sollen diese hohen Finanzierungserfordernisse der Staaten getragen werden?
OLIVER PICEK: Zunächst einmal müssen wir uns darüber in den nächsten zehn Jahren gar keine Sorgen machen. Österreich finanziert die höheren Ausgaben mit Krediten, konkret in Form eines Verkaufs von staatlichen Anleihen an einige ausgewählte Banken. Diese Banken wiederum bekommen das Geld dafür (zum Teil frisch gedruckt) von der europäischen Zentralbank. In einem zweiten Schritt kauft dann die europäische bzw. österreichische Zentralbank mit ihrem neuen Programm zum Ankauf von (Staats-)Anleihen de facto alle neu ausgegebenen Staatsanleihen Österreichs auf. Sobald wir Zinsen auf diese Anleihen an die Käufer der Anleihe bezahlen, zahlen wir die somit nicht mehr an private Anleger, sondern an uns selbst. Deshalb, weil den Zentralbanken die Anleihen gehören und der Gewinn der Zentralbanken wieder an deren Eigentümer, die Staaten, zurückgeht. Auf Deutsch: Wir schreiben uns selbst einen Scheck und es kostet uns fast nichts!
KOMPETENZ: Wie stehst du zu europäischen Coronabonds, zu Vermögenssteuern und welche Rolle kann die EZB übernehmen?
OLIVER PICEK: Corona-Bonds sind vor allem sinnvoll, um Italien und Spanien endlich die notwendige Solidarität zuzugestehen. Es kann nicht sein, dass man Italien und Spanien zuerst ein Jahrzehnt lang zwingt, Spitalsbetten mit einer irrwitzigen Kürzungspolitik abzubauen, die jetzt Menschenleben kosten, und sie dann während und nach der größten Krise der Nachkriegszeit auch noch finanziell alleine lässt. Auch Österreich muss hier seine sture Haltung endlich aufgeben und wieder europäische Solidarität zeigen, anstatt auf Italien und Spanien herumzutrampeln. Wir erwarten diese Solidarität von unseren Nachbarn genauso.
Langfristig müssen wir uns überlegen, wie wir die Krisenkosten verteilen, denn ein höherer Staatsschuldenstand wird von der Krise übrig bleiben. Es gibt zwar aus ökonomischer Sicht keinen einzigen vernünftigen Grund, warum der nicht höher bleiben kann, aber die Europäischen Verträge sehen aktuell immer noch ein Staatsschulden-Maximum von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung vor. Wenn das so bleibt, braucht es einen Beitrag der steuerlich Leistungsfähigeren, die sich bisher sehr erfolgreich um ihren fairen Beitrag zur Gesellschaft (Steuern in angemessener Höhe) gedrückt haben. Eine Vermögenssteuer kann und sollte da einen Teil übernehmen. Die trifft dann auch wirklich nicht die Falschen. Aktuell liest man ja in der Zeitung oder sieht in der Zeit im Bild, wie moralisch unanständig und in ihrer Gier unersättlich manche dieser Überreichen sind. Zuerst Kurzarbeits-Gelder vom Staat kassieren, währenddessen noch Dividenden aus dem Unternehmen pressen um das eigene Vermögen zu steigern, und danach noch eine Körperschaftssteuer-Senkung fordern und am liebsten noch die permanente 60 Stunden Woche dazu.