Auf der Reise durch soziale Klassen

Foto: privat

Die Autorin Betina Aumair erklärt, inwiefern soziale Mobilität für Menschen aus der ArbeiterInnen- oder Armutsklasse eine Reise in eine andere soziale Klasse darstellt, welche Rolle Bildung dabei spielt und welche Herausforderungen sich für Klassenreisende dabei ergeben können.

KOMPETENZ: Sie beschreiben in Ihrem gleichnamigen Buch „Klassenreisen“, auf die sich Menschen aus der ArbeiterInnen- oder Armutsklasse begeben, wenn sie einen höheren Bildungsabschluss erreichen. Was sind dabei die Herausforderungen?

Aumair: Zunächst fehlen Menschen der ArbeiterInnenklasse die Vorbilder. In puncto Berufswahl oder Bildungsabschluss ist oft nur das vorstellbar, was aus der näheren Umgebung bekannt ist. Kinder, deren Eltern schon ins Gymnasium gegangen sind, gehen in den meisten Fällen auch wieder in ein Gymnasium. Nicht so bei Kindern, deren Eltern als höchste formale Schulbildung einen Pflichtschulabschluss haben. Obwohl auch diese Kinder vermehrt Gymnasien besuchen, werden sie dennoch häufiger von Lehrer*innen in Mittelschulen vermittelt bzw. wechseln sie häufiger auch von Gymnasien wieder zurück in die Mittelschule. Das hängt oft auch damit zusammen, dass Eltern selbst vielleicht den Kindern nicht mehr helfen können und die finanziellen Möglichkeiten für Nachhilfe fehlen.

„Kinder, deren Eltern schon ins Gymnasium gegangen sind, gehen in den meisten Fällen auch wieder in ein Gymnasium. Nicht so bei Kindern, deren Eltern als höchste formale Schulbildung einen Pflichtschulabschluss haben.“

Betina Aumair

KOMPETENZ: Jugendliche aus ökonomisch nicht-privilegierten Haushalten tun sich schwerer die Zugänge zur Bildung zu finden?

Aumair: Genau. Studien zeigen, dass die Bildungslaufbahnen von Kindern aus AkademikerInnen-Familien klar vorgezeichnet sind. Kinder, deren Eltern bereits einen Hauptschulabschluss haben, werden sehr wahrscheinlich ebenso einen solchen erreichen. Wesentlich weniger wahrscheinlich ist das bei Kindern, die aus keinem AkademikerInnenhaushalt kommen. Hier existiert eine große und sehr reale Lücke zwischen den Möglichkeiten von Kindern aus AkademikerInnen- oder ArbeiterInnenhaushalten.

KOMPETENZ: Welche Rolle spielt dabei das soziale Umfeld, wie Eltern und Freunde?

Aumair: In Familien gibt es klare Vorstellungen darüber, welche Rolle jemand mit dem Besuch einer Schule einnehmen wird. Sobald Kinder aus diesem Schema ausbrechen und etwa ein Gymnasium besuchen wollen, taucht die Frage nach dem „Warum und Wozu“ auf.

KOMPETENZ: Gibt es da Rollenkonflikte?

Aumair: Menschen, die durch einen Bildungsaufstieg die eigene Herkunft verlassen, können das so erleben. Sie erzählen, dass sie mit ihren Themen in ihrer Herkunftsfamilie nicht mehr anschließen können oder dass sie bewusst zu Hause Dialekt sprechen, um zu zeigen, dass sie eh noch dazugehören.

KOMPETENZ: Müssen sich Bildungsaufsteiger*innen für eine bestimmte Rolle entscheiden?

Aumair: Nein, es ist durchaus möglich, beide Rollen auszufüllen und sich bewusst zu werden, dass man auf beiden Parketten tanzen kann. Die soziale Mehrsprachlichkeit, die Menschen erlangen, die sich von ihrer sozialen Herkunftsfamilie wegbewegen, bringt viele Vorteile. Sie kennen die Welt von mehreren Blickwinkeln aus und haben oft ein besseres Verständnis für Problemlagen anderer. Die Herausforderung ist es zu lernen, wann welches Rollen-Register bedient werden muss.

KOMPETENZ: Ist es schwer, die „alte“ soziale Haut der Herkunftsfamilie abzulegen?

Aumair: Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht dabei von Habitus. Damit sind unser Auftreten, unsere Haltung und unsere Vorstellungen gemeint. Diese Prägungen beeinflussen viele Entscheidungen in unserem Leben, die Art und Weise, wie wir uns kleiden oder unsere Wohnung einrichten. Jede Klasse hat bestimmte Normen, die den Habitus ausmachen. Je nachdem in welcher Klasse man sich bewegt, gibt es hier sehr feine aber wichtige Unterschiede.

Dabei bestimmen die bürgerlichen Normen der Mehrheitsgesellschaft nach wie vor, was anerkannt ist und was ernst genommen wird.

KOMPETENZ: Ist es schwer, sich in diesen unterschiedlichen Welten zurechtzufinden?

Aumair: Die zentrale Frage ist: Wie viel Energie braucht es, damit Klassenreisende sich auf dem bürgerlichen Parkett ebenso sicher bewegen können. Der hohe Aufwand an Ressourcen – nicht nur ökonomische – oder auch damit verbundene Unsicherheiten sind vielen Menschen nicht bewusst. Eine andere Herausforderung sind die sozialen Netzwerke. Kinder aus Arbeiter*innenhaushalten verfügen häufig nicht über die Netzwerke, die in der akademischen Welt wichtig sind.

KOMPETENZ: Wie könnte hier mehr Gerechtigkeit geschaffen werden? Braucht es eine Aufwertung der Arbeit an sich oder einen Ausbau der Sozialleistungen?

Aumair: Es braucht sicherlich beides. Solange ein Vollzeitjob in Österreich kein Garant mehr dafür ist, dass man genug Geld zum Leben hat, braucht es entsprechende Sozialleistungen. Im Sinne der Gruppe der „Working Poor“ braucht es auch eine Aufwertung der Arbeit. Eigentlich müsste der ganze Arbeitsbegriff neu bewertet werden, weil er in seiner derzeitigen Ausprägung nicht mehr für ein ökonomisch unabhängiges Leben für alle Gruppen sorgt.

KOMPETENZ: Wie könnte so eine Neubewertung erfolgen?

Aumair: Neben einer Aufwertung des gewerkschaftlichen Vertretungseinflusses sollte auch ein Grundeinkommen tabulos diskutiert werden. Wir müssen den Arbeitsbegriff neu denken, es muss ein Mindesteinkommen geben, das den Beschäftigten ein unabhängiges Leben ermöglicht. Was auch für Frauen nach wie vor ein großes Thema ist, da hier die familiären Abhängigkeiten immer noch hoch sind.

„Im Sinne der Gruppe der „Working Poor“ braucht es auch eine Aufwertung der Arbeit. Eigentlich müsste der ganze Arbeitsbegriff neu bewertet werden, weil er in seiner derzeitigen Ausprägung nicht mehr für ein ökonomisch unabhängiges Leben für alle Gruppen sorgt.“

Betina Aumair

KOMPETENZ: Sie sprechen in Ihrem Buch vom „Proletarischen Klassenbewusstsein“. Ist dieser Begriff noch zeitgemäß?

Aumair: Ich denke es hängt davon ab, wie man den Klassenbegriff fasst. Eine Kritik am Klassismus-Konzept ist ja die, dass es den Klassenbegriff von der Arbeit entkoppelt und ihn dafür an eine klassenspezifische Kultur bzw. an den Habitus knüpft. Diese Lösung des Klassenbegriffes vom zentralen Aspekt der Lohnarbeit ist darauf zurückzuführen, dass Fabriken immer mehr aus dem europäischen Kontext verschwinden, weil sie in Billiglohnländer ausgelagert werden.

Die Fokussierung einer – weit gefassten – Arbeitswelt beinhaltet auch eine Analyse des Wirtschaftssystems. Wie viele Menschen arbeiten und wer arbeitet, wer arbeitslos ist, wer welche kulturellen wie finanziellen Mittel zur Verfügung hat und diese wie einsetzt bzw. einsetzen soll, lässt sich nur mit einem auch ökonomischen Blick analysieren.

KOMPETENZ: Ist Bildung das Ticket zu einer erfolgreichen Klassenreise?

Aumair: Das Bildungssystem wäre der zentrale Ansatzpunkt für sinnvolle Änderungen, die helfen können, eingefahrene Klassenhierarchien aufzubrechen. Dem bestehenden Schulsystem ist es bislang nicht gelungen dieses Ungleichgewicht auszugleichen. Die Einführung einer Gesamtschule wäre daher ein wichtiger und richtiger Schritt für Veränderungen.

Unser zweigliedriges Schulsystem ist ein Zugeständnis der Politik an den Bildungsdünkel des Bürgertums. Solange wesentliche Unterstützungsleistungen auf schulischer Ebene von Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten erfüllt werden, solange werden formal gut gebildete Familien stets im Vorteil sein und solange wird es auch keine Chancengleichheit geben. Die Lösung liegt als Ganztagesschule längst am Tisch.

„Unser zweigliedriges Schulsystem ist ein Zugeständnis der Politik an den Bildungsdünkel des Bürgertums.

„Betina Aumair

KOMPETENZ: Was würde sich verändern?

Aumair: Das derzeitige Bildungssystem dient vorwiegend dem Bildungsbürgertum und damit jenen, die von der sozialen Mobilität der Bildung nicht abhängig sind, weil sie ein gutes soziales Netzwerk oder einen starken familiären Hintergrund haben. Für Kinder aus ArbeiterInnenhaushalten oder jene mit Migrationshintergrund ist Bildung oft die einzige Chance um soziale Mobilität zu erfahren – dies würde eine kostenlose Ganztagesschule bieten.

KOMPETENZ: Was bedeutet soziale Mobilität in diesem Zusammenhang?

Aumair: Es bedeutet ein Ausbrechen aus der bisherigen gesellschaftlichen Klasse. Es bedeutet, dass für privilegierte Kinder und Jugendliche plötzlich andere Berufe greifbar werden, es wird vorstellbar zu studieren und im Berufsleben eine gänzlich andere Entwicklung zu nehmen als die Elterngeneration.

Das momentane Bildungssystem wirkt herrschaftsstabilisierend, es orientiert sich nicht an jenen, die im Leben einer maximalen Verletzbarkeit, wie es die Politikwissenschafterin Maria do Mar Castro Varela ausdrückt, ausgesetzt sind.

KOMPETENZ: Welche realen Verbesserungen bringt eine Klassenreise?

Aumair: Sie stabilisiert den beruflichen Status und sichert den Lebensunterhalt ab. In der Arbeitswelt sind jene Dienstverhältnisse am stärksten gefährdet, die ungelernte Berufe betreffen. Wenn man gering qualifiziert ist verliert man leichter den Job, weil man leichter austauschbar ist.

Klassenreise – Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt
Betina Aumair, Brigitte Theißl
Wien, 2020, ÖGB Verlag

Die Autorinnen illustrieren mit Hilfe persönlicher Klassenreise-Portraits von Betroffenen anschaulich, dass die soziale Herkunft ausschlaggebend für unseren künftigen Wohlstand ist. Klassenreisende begeben sich auf einen Weg, der für sie nicht vorgesehen ist: Aufgewachsen in einkommensarmen Haushalten sind sie oft die ersten in der Familie, die an einer Universität studieren. Viele fühlen sich ihr Leben lang weder in der einen noch in der anderen Welt zuhause. Der soziale Aufstieg wird einerseits als Chance empfunden, aber auch als Bruch mit der Herkunftsfamilie und daher als schmerzvolle Erfahrung erlebt. Die biografischen Geschichten der elf portraitierten Personen machen deutlich, die stark uns unsere soziale Herkunft prägt, welchen Einfluss das Stadt-Land-Gefälle hat und welche Rolle Geschlecht und Migration dabei spielen.

Deutlich wird ein Grundübel unserer Gesellschaft herausgearbeitet: Dass Armutsbetroffene und Menschen mit geringer formaler Bildung systematisch abgewertet und ausgegrenzt werden. Auch die Rolle der Schulen und staatliche Institutionen, die Menschen in ihrer Herkunfts-Klasse „festhalten“ wollen anstatt deren Aufstieg zu fördern, wird beleuchtet. Als LeserIn kann man nachspüren, wie es sich anfühlt, in zwei Welten zu leben. Die Autorinnen machen aus dem Leben gegriffene Faktoren, an denen man Armut und Chancenungleichheit festmachen kann, erlebbar

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