Die ungeliebten Kriterien

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Die Rufe nach einer Reform des Euro-Stabilitätspaktes werden lauter. Die Staaten sind gespalten. Und die künftige deutsche Bundesregierung steht unter Zugzwang. Eine Analyse.

Entschieden ist der Streit über strengere EU-Finanzregeln noch nicht. Wenig freundlich verliefen die bisherigen Auseinandersetzungen darüber  – und in den nächsten Wochen und Monaten dürfte die Debatte deutlich an Schärfe zulegen. Die Fronten zwischen den 19 Staaten der Euro-Zone sind verhärtet.

Als Hüterin der EU-Verträge warnt die EU-Kommission davor, durch striktes Sparen das Wachstum und die Investitionen in den Green Deal und die digitale Zukunft zu gefährden. Am 19. Oktober 2021 startete sie ein Konsultationsverfahren, das zu weniger starren Haushaltsvorgaben führen könnte. Dabei fordert die Brüsseler Behörde die EU-Regierungen auf, nach der Corona-Krise nicht zu früh wieder mit dem Sparen zu beginnen. Der anstehende Konsolidierungsprozess müsse „auf nachhaltige und wachstumsfreundliche Weise“ geschehen, steht in einem internen Kommissionspapier.

Im Stabilitätspakt haben die Euro-Länder vereinbart, ihre jährlichen Haushaltsdefizite auf drei Prozent der nationalen Wirtschaftskraft und ihre Gesamtverschuldung auf 60 Prozent zu begrenzen. Wegen der Folgekosten der Corona-Krise wurde der Pakt bis Ende 2022 ausgesetzt.

Aus Sicht der französischen Regierung ist insbesondere die 60-Prozent-Grenze realitätsfern, liegt doch die durchschnittliche Staatsverschuldung in der Währungsunion derzeit bei rund 100 Prozent. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire erklärte beim Treffen der Ressortchefs Ende Oktober, man dürfe nicht nur über die Folgen der Pandemie sprechen. „Wir werden sehr, sehr viel mehr Geld für den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft in der EU brauchen.“ Auch diese Ausgaben müssten aus den Defizitregeln ausgeklammert werden.

Strenge Schuldenkriterien lockern

Angeführt von Frankreich verfolgt eine Reihe von Mitgliedsländern, darunter Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, das Ziel, die gemeinsamen Schuldenkriterien des Euro-Stabilitätspaktes zu lockern. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi wettete mit seinem kürzlich vorgelegten Haushaltsplan für 2022-2024, der Defizite weit über den Grenzwerten des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorsieht, bereits auf eine Änderung der Fiskalregeln.  

Zu den lautesten Verfechtern strikter Fiskalregeln zählt Österreich, das die Allianz gegen überschuldete Staaten anführt. „Mit dieser ‚Allianz der Verantwortung‘ wollen wir uns für den schrittweisen Abbau der Schulden einsetzen. Denn nur so sind wir auch für die nächste Krise gerüstet“, erklärte Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) kürzlich im Namen der Gruppe. Neben Österreich gehören Dänemark, Lettland, die Slowakei, Tschechien, Finnland, die Niederlande und Schweden diesem Klub der eisernen Sparer an. In Österreich sei aber „das letzte Wort noch nicht gesprochen“, sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) vor wenigen Tagen bei einer gemeinsamen Diskussionsveranstaltung der Arbeiterkammer und dem BürgerInnen Forum Europa in Wien.

Ob es einen Abschied von den Maastricht-Kriterien geben wird, hängt nicht zuletzt von der neuen deutschen Bundesregierung ab. Für den wahrscheinlich künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kommt die Debatte allerdings zur Unzeit. SPD und Grüne stehen einer Reform des Stabilitätspaktes offen gegenüber. Die FDP hingegen lehnt eine Aufweichung der Schuldenregeln strikt ab. Liberale und Grüne streiten darum, wer in einer Ampelkoalition das Finanzministerium besetzen soll.

Deutschland zögert

Scholz äußerte sich nach seinem Besuch bei Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron Ende Oktober sehr vorsichtig. In der Pandemie habe man gesehen, dass die sogenannten Maastricht-Kriterien bereits „sehr große Flexibilität“ ermöglichen, sagte er als Kanzler in spe. An dieser Position hält er bis heute fest.

„Eine flexible Interpretation ist wichtig, reicht aber nicht, um das Investitionsproblem zu lösen“, erklärte dazu Guntram Wolff, Direktor der renommierten Brüsseler Wirtschaftsdenkfabrik „Bruegel“ gegenüber dem deutschen Handelsblatt.  Wolff spielt auf jährliche Investitionen von mehr als 1000 Milliarden Euro an, wenn die EU ihre Klimazusagen und digitale Versprechen einhalten soll. Zum Vergleich: Zuletzt betrug die Gesamtsumme der Investitionen in Europa nur 683 Milliarden Euro pro Jahr.

Der Umgang mit der Staatsverschuldung in Europa dürfte den Sozialdemokraten Olaf Scholz noch vor einige Probleme stellen. Allen voran mit Frankreich, das im Jänner 2022 für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft übernimmt und eine Reform der in den 1990er-Jahren festgeschriebenen Schuldenregeln erwartet. Dabei setzt Paris auf die Unterstützung des Partners in Berlin. Ob und wie der Streit gelöst werden kann, dürfte entscheidend von der Position der künftigen deutschen Ampel-Koalition abhängen. Wir werden es bald wissen: Geht es nach den Ankündigungen, dürfte das Koalitionsabkommen rund um den Nikolaustag Anfang Dezember verkündet werden.   

Einflussreiche Ökonomen und internationale Finanzinstitutionen, wie der IWF,  fordern schon lange, den Stabilitätspakt der veränderten Lage anzupassen. Auch die im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verlangen eine Reform der Schuldenkriterien. Konkret schlagen die Sozialpartner drei Punkte vor: Erstens sollten öffentliche Investitionen von der Schuldenregel ausgenommen werden. Zweitens sollen die Mitgliedstaaten mehr Flexibilität beim Schuldenabbau erhalten. Statt starrer Schulden-Abbaupläne brauche es längere, länderspezifische und flexible Abbaupfade. Und drittens müssten die Schuldenkriterien weniger konjunkturverstärkend ausgestaltet sein. Zusammengefasst heißt das nichts anderes als ein Ende der Heiligsprechung bestehender Regeln.

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