
Foto: Daniel Novotny
Anschreien, Bedrohung, sogar körperliche Gewalt – für viele Beschäftigte im Handel ist das keine Ausnahme mehr, sondern Teil des Arbeitsalltags. Betriebsrätin Sabine Grossensteiner kennt die Realität hinter den Regalen – und kämpft für mehr Respekt seitens der Kund:innen, Schutz und verbindliche Prävention.
Sabine Grossensteiner ist seit über 20 Jahren im Team der Betriebsrät:innen der REWE Group. Sie vertreten Kolleg:innen in BILLA-, BIPA- und PENNY-Filialen – und sind es gewohnt, Probleme offen anzusprechen.
Doch was die Kolleg:innen in den letzten Jahren immer häufiger erleben, beunruhigt die Betriebsrät:innen zunehmend. Und damit ist es höchste Zeit, dass Gewalt im Arbeitsalltag nicht länger ignoriert, sondern öffentlich thematisiert wird. „Seit Corona hat sich der Ton verändert. Es fehlt an Geduld, an Respekt – und in manchen Situationen wird es richtig gefährlich“, erzählt sie. Früher habe man im Kundenkontakt starke Nerven gebraucht, „aber inzwischen eskaliert es viel öfter“.
Was sie schildert, ist kein Einzelfall. Kolleg:innen müssen sich beschimpfen lassen, ihnen wird unterstellt, sie seien „zu dumm zum Kassieren“, oder sie werden von Jugendlichen gefilmt, deren Ziel es ist, die Schikane später auf sozialen Netzwerken zu teilen, um damit Klicks zu generieren. „Ich muss nicht erklären, wie sich das anfühlt“, sagt Grossensteiner.
Wenn Pickerl zu Gewalt führen
Wie rasch alltägliche Situationen eskalieren können, zeigt ein Vorfall, der sich erst kürzlich ereignete: Eine Mitarbeiterin bittet einen Kunden, Rabattpickerl korrekt aufzukleben. Doch statt Verständnis zu zeigen, wird der Kunde aggressiv, verlässt wütend den Markt. Beim Geschäftsschluss kehrt er zurück, wird von Kolleg:innen irrtümlich eingelassen – und greift plötzlich einen Mitarbeiter an.
„Betriebsrät:innen schützen – nicht nur vor Übergriffen, sondern auch vor dem Gefühl, allein zu sein.“
Barbara Teiber
Vorsitzende der Gewerkschaft GPA
Ein anderer Fall: In einem kleinen Ort schlägt ein bekannter Kunde während einer Diskussion einem Mitarbeiter ins Gesicht, weil eine Aktion nicht verfügbar ist. Andernorts wird eine Kollegin an den Haaren gezogen, eine andere bespuckt oder gekratzt.
„Das passiert in der ganzen Branche. Die Kund:innen werden, wie allgemein auch, leider immer aggressiver gegenüber unserer Kolleg:innen“, sagt Grossensteiner.
Gewalt ist kein Nebenschauplatz
Was Sabine Grossensteiner aus den Märkten berichtet, belegt auch eine aktuelle Umfrage der Gewerkschaft GPA: Fast jede:r zweite Beschäftigte im Handel hat bereits Gewalt erlebt. Über 53 Prozent sehen eine Zunahme in den letzten fünf Jahren.

Für Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft GPA, sind diese Zahlen ein struktureller Alarmruf: „Wer im Handel arbeitet, hält unsere Gesellschaft am Laufen. Doch dass dabei fast jede:r zweite Beschäftigte Gewalt erlebt, ist nicht hinnehmbar. Es braucht klare Abläufe, ernsthafte Prävention – und ein Umdenken in der Gesellschaft.“
Betriebsräte machen den Unterschied
Besonders deutlich wird: Dort, wo es einen Betriebsrat gibt, sinkt das Risiko. Nötigung, Erpressung, Herabsetzung – all das kommt in mitbestimmten Betrieben deutlich seltener vor. Das bestätigt auch Grossensteiner: „Wo Mitbestimmung gelebt wird, herrscht mehr Respekt. Betriebsrät:innen schützen – nicht nur vor Übergriffen, sondern auch vor dem Gefühl, allein zu sein.“
Hast du schon einmal selbst überlegt einen Betriebsrat zu gründen?
Wenn es bei dir im Betrieb mindestens fünf Beschäftigte gibt, kann eine Betriebsratswahl stattfinden. Als Betriebsrät:in hast du einen besonderen Kündigungsschutz. Wir unterstützen dich und deine Kolleg:innen bei der Durchführung der Betriebsratswahl.
Wende dich an unsere Beratung unter www.gpa.at/kontakt
Auch Barbara Teiber betont die Bedeutung von Betriebsrät:innen: „Mitbestimmung ist kein Verwaltungsakt, sondern ein wirksamer Schutzfaktor. Sie verbessert das Betriebsklima, schafft Vertrauen – und hilft, Konflikte frühzeitig zu erkennen.“
„Es fehlt an Geduld, an Respekt – und in manchen Situationen wird es richtig gefährlich.“
Sabine Grossensteiner
Betriebsrätin bei der REWE Group
Was sich ändern muss
Doch gerade im stressigen Alltag fehlt oft die Zeit und Energie, um dranzubleiben. „Prävention darf kein Punkt auf der To-do-Liste sein“, sagt Grossensteiner. „In der REWE-Group haben wir bereits Maßnahmen zur Gewaltprävention implementiert, aber dieser Schutz muss für alle Kolleg:innen gelten.“ Außerdem entstehe die Aggression nicht im luftleeren Raum. „Zu wenig Personal, wachsender Arbeitsdruck und schlechte Arbeitsorganisation – das sind für die Beschäftigten die Hauptursachen“, so Teiber. „Wenn Beschäftigte alleine in der Filiale stehen, weil gespart wird, dann steigt die Eskalationsgefahr automatisch.“
Besserer Schutz am Arbeitsplatz
Um Handelsangestellte besser zu schützen, braucht es deshalb ein klares Maßnahmenpaket: „Dazu gehört ein kollektivvertraglich verankertes Recht auf Supervision – damit Beschäftigte nach Vorfällen rasch und unkompliziert psychologische Unterstützung erhalten. Genauso wie eine verbindliche Mindestbesetzungen zu Stoßzeiten, um Überforderung zu vermeiden“, betont Teiber.

In größeren Betrieben sollen Gewaltschutzbeauftragte eingesetzt werden, die als Ansprechpersonen für Prävention und Krisensituationen zur Verfügung stehen. Und nicht zuletzt braucht es gewaltfreie Arbeitsgestaltung – durch bauliche sowie organisatorische Vorkehrungen im Sinne des Arbeitnehmer:innenschutzgesetzes.
Respekt ist keine Option, sondern Voraussetzung
„Wir wollen, dass Menschen ihren Job wieder gern machen können – ohne Angst, ohne Grenzüberschreitungen, ohne stilles Erdulden“, sagt Barbara Teiber. „Dafür braucht es klare Regeln, Mut zur Veränderung – und ein gemeinsames Bekenntnis, dass Gewalt am Arbeitsplatz nichts verloren hat.“
Sabine Grossensteiner ergänzt: „Unsere Kolleg:innen sind mit Herz bei der Arbeit. Sie haben Respekt und ein ordentliches Verhalten der Kund:innen ihnen gegenüber mehr als verdient. Die Gewalt steigt allgemein, natürlich auch in anderen Branchen, gerade deshalb ist es wichtig, dass wir darauf aufmerksam machen – damit sich etwas ändert.
Barbara Teiber: Wir brauchen sichere Arbeitsplätze
Beschimpft, angeschrien, bedroht – für viele Beschäftigte im Handel gehört das mittlerweile zum Alltag. Unsere aktuelle Umfrage zeigt: Jede:r Zweite hat im Laufe des Berufslebens bereits Gewalt erlebt. Das ist alarmierend. Denn Arbeit soll nicht krank machen – und schon gar nicht gefährlich sein.
Das gemeinsame Ziel muss sein, dass Menschen ihre Arbeit gern machen und sie auch bis zur Pension ausüben können. Dafür braucht es konkrete Maßnahmen, die Beschäftigte wirklich schützen.
Als Gewerkschaft weisen wir seit Jahren auf die hohe Belastung, den Personalmangel und den steigenden Druck im Arbeitsalltag hin. Diese strukturellen Probleme erhöhen das Risiko für Übergriffe – und müssen ernst genommen werden.
Gewalt ist kein Betriebsrisiko, sondern eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Die Verantwortung liegt bei uns allen: Arbeitgeber müssen präventiv handeln und klare Strukturen schaffen. Und als Gesellschaft müssen wir jenen, die tagtäglich für uns arbeiten, mit Respekt und Rückhalt begegnen.