Die Corona-Krise verschärfe bestehende Ungleichheiten drastisch, warnt die Volkshilfe – und fordert die Einführung einer Kindergrundsicherung. Österreich habe das Potential Kinderarmut „als erstes Land weltweit“ abzuschaffen.
Mehr als 300.000 Kinder in Österreich sind armutsgefährdet. Das entspricht in etwa der EinwohnerInnenzahl des Burgenlands. Die Volkshilfe Österreich fordert mehr Geld für betroffene Familien, langfristig die Einführung einer Gesamtschule und einer Kindergrundsicherung. In einem Forderungspapier, das die Volkshilfe unlängst veröffentlichte, zeigt sich: auch wenn vielfach von Aufstiegschancen durch Bildung die Rede ist, ist das Bildungssystem hierzulande eines, das soziale Ungleichheit verstetigt, anstatt sie zu bekämpfen.
Während der Corona-Krise werden die Folgen der Armutsgefährdung besonders sichtbar, heißt es in dem Forderungspapier. Die AutorInnen sprechen von einer multiplen Krisensituation: eine Krise der sozialen Absicherung, eine Bildungskrise und eine Krise des psychosozialen Wohlbefindens. Mit Aufkommen der Pandemie werden bereits bestehende Ungleichheiten sichtbarer und verschärfen sich.
Symptome einer Krise
Konkret zeigt sich das etwa beim Thema Homeschooling und Distance Learning. In den durchschnittlich kleineren Wohnungen ärmerer Familien haben Kinder und Jugendliche oft keinen eigenen Schreibtisch zur Verfügung. Die AutorInnen verweisen auf eine Studie, wonach 36 Prozent aller unter 18-jährigen Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten keinen Computer im Haushalt haben. Auch in Sachen Helligkeit und Lärmpegel im persönlichen Lernumfeld sind armutsbetroffene Kinder laut Studie benachteiligt.
Die Corona-Krise trifft Kinder aus armutsgefährdeten Familien in vielerlei Hinsicht stärker: laut den AutorInnen wirkt sie sich negativer auf das körperliche Wohlbefinden betroffener Kinder aus und deren psychische Gesundheit leidet stärker als bei Kindern aus finanziell besser gestellten Haushalten. Während des Lockdowns fallen soziale, konsumzwangfreie Räume als Treffpunkte weg, Orte, auf die vor allem Jugendliche aus Familien mit niedrigerem Einkommen angewiesen sind. Das Leben auf engem Raum ohne Ausweichterrain verschärft das innerfamiliäre Konfliktpotential. Unlängst meldete etwa die Kinder- und Jugendhilfe Salzburg, ihr Personal stoße aufgrund dieser Herausforderungen in Familien an ihre personellen Grenzen. Im Jahr 2020 mussten sie um ein Drittel öfter einschreiten als im Vorjahr.
„Das österreichische Schulsystem zementiert Klassenunterschiede“
Die Volkshilfe weist schon seit Jahren auf die Situation von armutsgefährdeten Kindern hin. Geschehen ist wenig. Auch wenn ein „sehr, sehr leichter Rückgang“ zu verzeichnen sei, erklärt Judith Ranftler, Leiterin des Projekts „Kinderarmut abschaffen“ der Volkshilfe, sei das einerseits „viel zu wenig“ und andererseits davon auszugehen, dass die Corona-Krise die Situation erneut verschärfen werde. In der Koalitionsvereinbarung von ÖVP und Grünen heißt es, „auf die Bekämpfung von Kinderarmut“ lege die Bundesregierung „ein besonderes Augenmerk“. Konkrete Maßnahmen finden sich im Koalitionspapier nicht. „Die Prioritäten liegen offenbar woanders“, kritisiert Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe.
Die Kritik der Volkshilfe richtet sich vor allem gegen die strukturelle Benachteiligung im österreichischen Schulsystem. Eine Ganztags- und Gesamtschule für alle 6- bis 14-Jährigen könne ein wirksamer Hebel sein, um die strukturelle Diskriminierung gegenüber armutsbetroffenen Kindern zu bekämpfen, heißt es in dem dazugehörigen Forderungspapier. „Die Vorteile einer Gesamtschule sind in der Wissenschaft relativ unumstritten“, betont Ranftler. „Aber letztlich ist es eine politische Frage“. „Das österreichische Schulsystem zementiert Klassenunterschiede“, bürgerliche Parteien wie die ÖVP hätten daher wenig Interesse daran, an diesem System zu rütteln.
Schule als Ungleichmacher
Darüber hinaus brauche es ein flächendeckendes Angebot von Ganztagsschulen. „Ein gravierendes Problem in Österreich ist, dass die aktive Unterstützung der Eltern strukturell miteingeplant ist“, erklärt Ranftler. Die Kinder gehen vormittags zur Schule, nachmittags soll der Stoff wahlweise mit Eltern oder NachhilfelehrerInnen vertieft werden. Für Eltern mit genügend Zeit, Bildung und Einkommen eine machbare Aufgabe, aber summa summarum ein Faktor, der die Bildungsmobilität in Österreich stark einschränkt – und dem durch die Einführung einer Ganztagsschule entgegengewirkt werden könnte.
Das Bildungssystem in Österreich, vielfach als Aufstiegschance für jede und jeden, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Familie, gepriesen, gleicht laut Volkshilfe-Studie eher einem Ungleichmacher. Die Schule als Ort, der bestehende soziale und ökonomische Ungleichheiten verschärft, anstatt sie abzumildern. „Doch das müsste nicht so sein“, findet Ranftler. Wolle man langfristig etwas gegen Kinderarmut unternehmen, „wird das nicht ohne substanzielle Änderungen im Bildungssystem gehen können“.
Theater und Museen als Lernräume
Abseits einer grundlegenden Schulreform fordert die Volkshilfe die Einführung einer sogenannten Kindergrundsicherung. Kinder und Jugendliche sollen, unabhängig vom Einkommen der Eltern, bis zum Alter von 18 monatlich einen Betrag von 200 Euro bekommen. Diese Zahlung kann – abhängig vom Familieneinkommen – um bis zu 425 Euro aufgestockt werden. „Wir könnten mit diesem Modell das erste Land weltweit sein, das Kinderarmut abschafft“, betont Fenninger. Laut Berechnungen des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung würden die Mehrkosten der bundesweiten Einführung der Kindergrundsicherung rund zwei Milliarden Euro betragen.
Dass das kein Projekt ist, dass sich von heute auf morgen umsetzen lässt, ist den AutorInnen bewusst. Kurzfristig schlagen sie daher eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes und die Verlängerung der Anspruchsberechtigung vor. Um Schulen so rasch wie möglich wieder öffnen zu können, sollten etwa Kinosäle, Museen oder Theater angemietet und als Lernräume zur Verfügung gestellt werden. Denn dass sich Armut bei geschlossenen Schulen noch mehr auf den Bildungserfolg von Jugendlichen auswirkt, ist laut den Studien-AutorInnen „offensichtlich“.
Was bedeutet armutsgefährdet?
Als „armutsgefährdet“ werden in Österreich jene Personen bezeichnet, deren Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens (mittlerer Wert der Verteilung) beträgt. Die Armutsgefährdungsschwelle betrug 2019 somit 15.437 Euro für einen Einpersonenhaushalt, das sind 1.286 Euro pro Monat (12 Mal). Österreichweit sind 303.000 Kinder und Jugendliche sowie 653.000 Frauen und 517.000 Männer ab 18 Jahren von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung betroffen.