Das Wiener Projekt ‚Nachbarinnen‘ greift migrantischen und Flüchtlingsfamilien unter die Arme. Groß geschrieben wird dabei Hilfe zur Selbsthilfe.
Ein Mittwoch, kurz vor neun Uhr, Gebietsbetreuung am Allerheiligenplatz in der Brigittenau: Nach und nach trudeln an die zehn Frauen ein, viele von ihnen tragen Kopftuch, manche haben eine dünklere Hautfarbe als andere. Sie begrüßen einander herzlich, greifen zu Kaffee und Kuchen, tratschen. Inzwischen hat auch ein Mann an dem langen Tisch Platz genommen. Auf einem Flipchart kann sich jeder eintragen, der an diesem Vormittag einen Fall vorstellen und sich dazu mit den anderen beraten möchte.
Seit zwei Jahren betreuen die ‚Nachbarinnen‘ migrantische und Flüchtlingsfamilien, die ein Kriterium eint: sie leben sehr isoliert und zurückgezogen, meist verlassen die Frauen die Wohnung nur, um im Grätzel die nötigsten Einkäufe zu erledigen. Die ‚Nachbarinnen‘: das sind Frauen aus der Türkei, Tschetschenien oder Somalia, die selbst noch sehr in der eigenen Tradition verhaftet sind, „aber schon das Stück Freiheit im Kopf haben“, wie es die Wiener Internistin Christine Scholten formuliert. Sie hat das Projekt gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Renate Schnee initiiert, beide leiten es bis heute ehrenamtlich.
Kontakt zur Community
16 Frauen wurden vor zweieinhalb Jahren in einem eigens an der Alpen Adria-Universität konzipierten Kurs zu sozialen Helferinnen ausgebildet. Acht davon sollten ursprünglich als ‚Nachbarinnen‘ angestellt werden. Am Ende brachten Scholten und Schnee mehr Mittel als erwartet auf und konnten zwölf Frauen engagieren. Sie leben im 2., 12. oder 20. Bezirk und stehen in engem Kontakt zu ihren jeweiligen Communities. So wissen sie, wo der Schuh drückt, aber auch, wer besondere Hilfe benötigt. Am Anfang der Betreuung einer Familie steht ein Vertrag, denn unterstützt wird nur, wer bereit ist, sein Leben zu verändern. Die ‚Nachbarinnen‘ sehen sich vor allem als Helfer zur Selbsthilfe: Frauen sollen selbstständiger werden, den Kindern der Zugang zu Bildung erleichtert werden. „Uns geht es um Partizipation“, betont Scholten.
Viel hat sich in diesen zwei Jahren getan. 320 Familien, die zuvor sehr zurückgezogen lebten, wurden oder werden noch betreut und sind nun besser in der österreichischen Gesellschaft integriert. Das bedeutet: die Kinder gehen zur Schule und machen auch Abschlüsse. Einige hat man davor bewahrt, zu Sonderschülern abgestuft zu werden. Und die Mütter lernen Deutsch, wagen auch einmal den Schritt hinaus in einen anderen Wiener Bezirk, fangen sogar zu arbeiten an.
Ausbildung und Arbeit
Seit diesem Jahr bietet das Projekt zum Beispiel auch eine Ausbildung zur Näherin an. Hier wird nicht nur Handwerkliches, sondern auch fachspezifisches Vokabular vermittelt. Nun sind bereits zehn Frauen in einem von Scholten und Schnee im Rahmen von ‚Nachbarinnen‘ gegründeten Betrieb als Näherinnen beschäftigt. „Die Idee ist, dass sie dann nach ein, zwei Jahren bei uns eine Stelle in einem anderen Unternehmen finden“, erklärt Scholten.
Auch auf anderer Ebene sind Scholten und Schnee ständig dabei, das Projekt weiterzuentwickeln: immer wieder stießen ‚Nachbarinnen‘ auf Radikalisierungstendenzen bei jungen Männern. Eine Abreise nach Syrien stand da ebenfalls bereits in zwei Familien im Raum. In beiden Fällen konnte dies verhindert werden. Einer der Betroffenen arbeitet inzwischen in Wien bei einer Security-Firma und sei sehr glücklich damit, erzählt Scholten.
Jugendarbeit
Von den zwölf ursprünglichen ‚Nachbarinnen‘ sind heute noch sechs Teil des Teams, die anderen haben sich entschlossen, eine weitere Ausbildung zu absolvieren, auch das ist ein Erfolg des Projekts. So hat man inzwischen fünf andere Frauen aufgenommen – und auch einen Mann. Er macht vor allem Jugendarbeit und hat sich auf den Bereich Deradikalisierung spezialisiert. Gerade in sehr traditionell lebenden Communities stoßen die Frauen kulturell bedingt mit ihrem Wirken auch an Grenzen. Hier wurde nun eine Lücke geschlossen.
Arbeitstechnisch stellen die Änderungen im Team das Projekt auch vor Herausforderungen. Die Neuen lernen von denen, die bereits seit zwei Jahren diese soziale Arbeit leisten. Punktuell wird in Workshops das nötige Rüstzeug vermittelt, das aber mit der ursprünglichen fünfmonatigen Ausbildung nicht zu vergleichen ist. Und so steht in der Teamsitzung an diesem Mittwoch auch viel Organisatorisches am Programm: wie kann die Kommunikation im Team verbessert werden? Was können die ‚Nachbarinnen‘ leisten? Und wann soll an andere Stellen verwiesen werden?
Finanzierung
Von der Stadt Wien wurde das Projekt von Anfang an unterstützt, aber auch das Sozialministerium stellte Mittel zur Verfügung. Insgesamt erfolgt die Finanzierung zu einem Drittel durch die öffentliche Hand und zu zwei Dritteln durch private Spenden, erläutert Scholten. Politischer Gegenwind kam bisher alleine von der FPÖ, die in Gemeinde- und Nationalrat gegen die Subventionen mobil machte – ohne Erfolg. Im Gegenzug wurde das Projekt bereits mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Bank Austria Sozialpreis, dem Gesundheitspreis der Stadt Wien oder im Rahmen der Initiativen „Spendenparlament“ und „Sozialmarie“
‚Nachbarinnen‘ unterstützen
Die ‚Nachbarinnen‘ freuen sich über Unterstützung für Sport- und Gymnastikgruppen, Konversationsgruppen und besonders bei der Lernhilfe für Kinder (Mathematik und Deutsch für Pflichtschüler). Sie können also Ihre Zeit spenden oder natürlich auch das Projekt finanziell unterstützen – eines steht fest: Ihre Spende bewegt!
Mehr dazu auf www.nachbarinnen.at