Vor Hartz IV in Österreich und Folgeschäden warnt der Sozialwissenschaftler Martin Schenk von der Armutskonferenz im Interview mit der KOMPETENZ.
KOMPETENZ: Wie viele arme Menschen gibt es?
Martin Schenk: Eine Million Menschen sind einkommensarm; das sagt aber noch nichts über die konkreten Lebensbedingungen aus. Deshalb gibt es als Teilmenge davon eine zweite Zahl über die Deprivation oder soziale Ausgrenzung; sie sagt etwas über die tatsächlichen Lebensbedingungen, etwa ob die Wohnung feucht und verschimmelt ist, ob jemand Schulsachen für die Kinder kaufen kann oder einsam ist usw. Davon sind um die 400.000 Menschen in Österreich betroffen. Sie haben zu wenig Geld und sind ausgegrenzt. Die Einkommensarmen haben zu wenig Geld, sind aber nicht unbedingt ausgegrenzt.
KOMPETENZ: Somit gibt es mehr Arme als Arbeitslose?
Martin Schenk: Ja. Am stärksten gefährdet sind Kinder, Menschen mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen und eine Gruppe von PensionistInnen, die die Ausgleichszulage oder die Mindestsicherung bekommen, wenn sie nicht genug Versicherungszeiten haben. Österreich hat ja keine Mindestpension wie Dänemark.
KOMPETENZ: Laut einer Wifo-Studie kommt unser Umverteilungssystem sehr wohl einkommensschwachen Haushalten zugute.
Martin Schenk: Wir gehören zu den vier, fünf Ländern Europas mit der geringsten Armut. Das liegt – das bestätigen internationale Vergleiche – an den Sozialstaatsleistungen. Länder mit stark ausgebautem Sozialstaat können Armut präventiv verhindern. Das ist die gute Botschaft. Die andere ist: Die Schere zwischen den unteren und oberen Einkommen geht seit den 2000er-Jahren weiter massiv auseinander. Die Haushaltseinkommen bleiben dabei statistisch gesehen stabil, da der Sozialstaat bei Einkommensverlusten einspringt. Aber nimmt man die Vermögen dazu, geht die Schere weit auseinander, weil das Vermögen der oberen fünf Prozent stark gestiegen ist.
KOMPETENZ: Welche Auswirkungen hätte die Einführung von Hartz IV nach deutschem Vorbild?
Martin Schenk: Wer Armut bekämpfen will, darf jedenfalls nicht einen staatlich geförderten Niedriglohnmarkt einführen. Der würde die Armut massiv bis in die unteren Mittelschichten hinauftreiben. Mit Hartz IV wurden in Deutschland zehn Prozent in den Niedriglohnmarkt und damit unter die Armutsgrenze gedrängt.
Das Versprechen war ja, dass über diese Billigjobs der Sprung in den Arbeitsmarkt gelingen würde. Aber alle Studien zeigen, dass das kein Sprungbrett, sondern eine Armutsfalle geworden ist. Zwölf Prozent schaffen es so in den Arbeitsmarkt, alle anderen bleiben unten picken und gelangen von schlechten Jobs zu schlechten Jobs. Da entstehen Drehtüreffekte. Diese Menschen können sich nur noch entscheiden zwischen nicht-existenzsichernd leben unter Hartz IV oder Jobs, die genauso wenig die Existenz sichern und krank machen. Mittlerweile rät auch die OECD Deutschland, stärker in höhere Löhne zu investieren und das Abstiegsrisiko der Mitte zu verringern. Deutschland ist laut Eurostat das Land mit dem höchsten Anstieg der Armut unter den Erwerbslosen in Europa.
KOMPETENZ: Dennoch propagiert die Lobbygruppe „Agenda Austria“ die Einführung von Hartz IV in Österreich, und das Finanzministerium hat ausrechnen lassen, was die Einführung des Modells bei uns bringen würde.
Martin Schenk: Bei der Studie des Finanzministeriums ist ja herausgekommen, dass Hartz IV in Österreich zu 160.000 mehr Einkommensarmen führen würde. Die Folgekosten sind hier noch gar nicht miteingerechnet: Was würde das für die Bildung, den Aufstieg und die Sicherheit der Kinder in diesen Familien bedeuten? Zweitens die gesundheitlichen Auswirkungen durch das Leben unter der Armutsgrenze, und drittens die Auswirkungen auf das Wohnen. Viele dieser Menschen suchen dann Hilfe bei uns oder ziehen in billigere, oft feuchte, verschimmelte Wohnungen. Zentrale Faktoren für die Entwicklung von Kindern sind: Gesundheit, Anerkennung, Förderung – keine Beschämung und keine Existenzangst. Die Streichungen der Wohnbeihilfe in England führten zu einem zehnprozentigen Anstieg von Erschöpfungsdepressionen bei Personen aus Niedrigeinkommenshaushalten, zeigen Studien der Universität Oxford.
KOMPETENZ: Das hieße, Hartz IV würde durch Leistungskürzung und -verschärfung auch bei uns deutliche Kollateralschäden bringen?
Martin Schenk: Es wird nicht zusammengedacht! Gerade in sozialer und ökonomischer Hinsicht sind immer viele Dimensionen zu bedenken. Wir wissen ja aus der Begleitung von Arbeitslosen, dass der stärkste Impuls für einen neuen Job nicht der fünfte Computerkurs ist. Sondern dass Leute ihre gesundheitlichen Probleme aufarbeiten können, oder dass sie wieder gestärkt werden in Freundes- und sozialen Netzwerken und nicht länger einsam oder isoliert sind.
KOMPETENZ: Was müsste die neue Bundesregierung tun?
Martin Schenk: Erstens das Thema Wohnen. Das ist bei vielen die Hauptsorge. Weil speziell in Wien, Graz, Salzburg und Innsbruck die Mieten massiv gestiegen und für viele nicht mehr leistbar sind. Da wäre der soziale Wohnbau sehr wichtig. Damit mehr leistbare Wohnungen am Markt verfügbar sind. Städte wie Wien wachsen, daher steigt die Wohnungsnachfrage – aber auch die Preise, weil es zu wenig Angebot an sozialen Wohnungen gibt. Das andere wäre ein Ausbau der Delogierungsprävention. Wien hat damit begonnen und wird europaweit auch oft als Vorzeigebeispiel genannt; das gehört ausgeweitet auf den ländlichen Bereich und die Kleinstädte. Schutz vor Delogierung ist außerdem ökonomisch sinnvoll und kommt günstiger für die Verwaltung als die Wohnungslosenhilfe.
Zweite Priorität müsste die Bildung sein. Wir haben gemeinsam mit der Uni Linz den Chancenindex für Schulen entwickelt. Die Idee dahinter ist, Schulen in sozial benachteiligten Bezirken besonders gut auszustatten, damit sie keine Schüler zurücklassen und für alle Einkommensschichten attraktiv bleiben. Die Niederlande, Zürich, Hamburg und auch Kanada haben damit gute Erfahrungen gemacht. Dritte Priorität sollte Gesundheit sein. Das ist der dritthäufigste Grund, meist die Erschöpfungsdepression (Burn-out) nach dem Motto „ich kann nicht mehr“, weshalb Menschen bei einer der vierzig Organisationen der „Armutskonferenz“ Hilfe suchen. Eine riesengroße Frage ist die Gesundheitsprävention am Arbeitsplatz.
KOMPETENZ: Braucht es mehr Infrastruktur in ländlichen Gebieten?
Martin Schenk: Ja, vor allem in der Gesundheitsversorgung braucht es mehr psychosoziale Versorgung, Psychotherapie, finanzielle Unterstützung bei Heilbehelfen – und natürlich bei der Pflege. Wir haben das Problem, dass es in Österreich nur drei Stunden leistbare mobile Pflege gibt oder eben die 24-Stunden-Betreuung. Das macht es gerade für pflegende Angehörige – und das sind meist Frauen – unmöglich, Beruf und Familie zu vereinbaren. Anders als in skandinavischen Ländern wie Dänemark, wo auch eine flexiblere 5-, 6- oder 7-Stunden-Pflege und -Betreuung möglich ist.
KOMPETENZ: Woher müsste das Geld genommen werden, um all die Punkte umzusetzen?
Martin Schenk: Nicht alles sind Mehrkosten, wir ersparen uns auch viel an Kollateralschäden. Und Investitionen in beispielsweise Pflege und Bildung bringen einen return on investement bei Jobs, Gesundheit, Belebung ländlichen Raums und Erwerbsquote. Es macht auch Sinn und ist für die Mittelschichten günstiger, die Pflege mit der Erbschaftssteuer zu koppeln, statt den Faktor Arbeit noch weiter zu belasten. Auch die Debatte über eine Wertschöpfungsabgabe werden wir zukünftig führen. Die Arbeitswelt ist in Veränderung, da muss auch die Finanzierung des Sozialen für uns alle zukunftstauglich gemacht werden.