Martin Kocher, wissenschaftlicher Direktor des IHS, und Agnes Streissler-Führer, Mitglied der GPA-djp-Bundesgeschäftsführung, im KOMPETENZ-Gespräch über Nutzen und Risiken der Digitalisierung.
KOMPETENZ: Frau Streissler-Führer, Digitalisierung wird oft kritisch gesehen. Aber wo liegen eigentlich die Vorteile?
Streissler-Führer: In Österreich sind in den vergangenen 20 Jahren durch die Digitalisierung mehr Arbeitsplätze dazugekommen als weggefallen. Problematisch ist, wenn die Digitalisierung nur dazu verwendet wird, sehr profitorientierte, kurzfristig ausgerichtete Geschäftsmodelle zu unterstützen und so zur Prekarisierung und Unsicherheit am Arbeitsmarkt beiträgt. Man muss auf das Dreieck achten zwischen Digitalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung, also der starken Dominanz von Finanzmärkten, die diese kritischen Entwicklungen begünstigen. Den technologischen Fortschritt an sich hat die Gewerkschaft immer unterstützt. Aber er darf nicht nur den Kapitalinteressen nützen.
KOMPETENZ: Herr Kocher, Sie haben eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) präsentiert, wonach in Österreich neun Prozent der Jobs durch Digitalisierung verloren gehen werden. Ist es wirklich so dramatisch?
Kocher: Wir haben in dieser Studie das Destruktionspotenzial berechnet und kommen auf circa 360.000 Arbeitsplätze, die in Österreich durch die Digitalisierung verloren gehen könnten. Allerdings wird dabei nicht berücksichtigt, welche Jobs dadurch geschaffen werden. Das ist viel schwieriger zu berechnen. Was man sich nur schwer vorstellen kann ist, dass Österreich generell ein Leader bei der Digitalisierung wird. Da sind andere Länder aus Asien oder die USA vorneweg. Aber auch als Follower kann man positive Arbeitsplatzeffekte haben.
KOMPETENZ: Woran liegt es, dass die Digitalisierung in Österreich unterdurchschnittlich voranschreitet?
Kocher: Wir sind nicht so technologieaffin wie andere Länder. Die USA haben einen riesigen Vorteil durch die Größe: Der Heimmarkt zum Austesten etwa von Sharing-Angeboten ist schon so groß, dass viel leichter in die ganze Welt expandiert werden kann. Österreich, selbst der gesamte deutschsprachige Raum hat einen vergleichsweise kleinen Heimmarkt.
Streissler-Führer: Wo Österreich gemeinsam mit Deutschland sehr gut ist, ist der gesamte Bereich der Industrie 4.0. Ich habe hervorragende Industriebetriebe besucht, die in der Produktion selbst bereits hoch automatisiert und digitalisiert sind und wichtige Produkte für die digitalisierte Welt herstellen, wie Sensoren, Halbleiter usw. Was Europa nicht so macht wie die USA, ist vollkommen neue Unternehmen aus dem Boden zu stampfen. Europa transformiert seine althergebrachten Industriebetriebe in die digitale Welt. Diese Betriebe sind dann trotzdem Frontrunner.
KOMPETENZ: Was wäre in Österreich noch zu tun, damit auch ArbeitnehmerInnen von der Digitalisierung profitieren?
Streissler-Führer: Wir müssen bei den Qualifikationen ansetzen. Nur so sind wir in der Lage, mit den Veränderungen kritisch mitzugehen und die Vorteile herauszuholen. In der Schule sind das Kompetenzen wie die Medien-Kompetenz, soziale Kompetenzen und interkulturelle Kompetenz, aber auch Kompetenzen, die mit Projektarbeit zu tun haben, weil sich mit der Digitalisierung auch Arbeitsstrukturen verändern. Außerdem haben wir vier Millionen ArbeitnehmerInnen, von denen sich viele schwer tun mit Veränderungen des Arbeitsmarktes. Hier müssen wir auf die berufliche Aus- und Weiterbildung achten. Das heißt, es haben auch die UnternehmerInnen eine Verantwortung: Wenn wir durch die Digitalisierung lernende Unternehmen möchten, bedeutet das, sowohl in die Maschinen als auch in die Menschen zu investieren.
Kocher: Da liegen wir nicht weit auseinander. Die Digitalisierung müssen die UnternehmerInnen und die ArbeitnehmerInnen mittragen. Das größere politische Problem ist, dass etwa 15-20 Prozent der ArbeitnehmerInnen abgehängt werden könnten, weil ihre Fähigkeiten nicht mehr für das reichen, was man jetzt bräuchte. Ansonsten läuft es sehr gut in Österreich. Vielleicht könnte man da und dort manche Veränderung schneller hinbekommen. Hinsichtlich Teleworking und Homeoffice ist Österreich sogar um einiges weiter als Deutschland. Vielleicht nicht so weit wie Schweden oder Holland, aber wir haben da einen Kulturwandel hinbekommen. Von 8 bis 17 Uhr ins Büro zu gehen, ist nicht mehr das Standardmodell. Das bricht ein wenig auf – was natürlich Vor- und Nachteile hat.
KOMPETENZ: Die Verteilungsfrage ist Ihnen, Frau Streissler-Führer, ja dabei ein besonderes Anliegen.
Streissler-Führer: Genau. Was ich nicht will, ist eine unfreiwillige Ungleichverteilung in der Arbeitszeit, dass vor allem Frauen in Teilzeit arbeiten müssen. Wir sehen bei den ArbeitnehmerInnen, dass die flexibleren Arbeitszeitgrenzen, das Verschwimmen von Freizeit und Arbeit ineinander, tendenziell dazu genützt wird, dass Männer ihre Arbeitszeit karrieremäßig gut einteilen. Die gesamte Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt aber an den Frauen hängen, die zum Teil in Teilzeitarbeitsplätze gezwungen werden. Das betrifft auch Teleworking von zu Hause aus. Ich finde es gut, wenn Menschen selbstbestimmt mitentscheiden können, wie, wann und wo die Arbeit stattfindet. Aber man muss sehr genau hinschauen, was die tatsächlichen Auswirkungen sind. Homeoffice-Arbeit muss wirklich etwas mit Selbstbestimmung zu tun haben und soll nicht vorgefertigte Rollenmuster verstärken.
Kocher: Deshalb habe ich Schweden als Beispiel genannt. Da gibt es auch keine Arbeitstreffen mehr nach 17 Uhr, was eine bessere Aufteilung der Familienarbeit über die Geschlechter hinweg ermöglicht.
KOMPETENZ: Österreich hat im zweiten Halbjahr 2018 die EU-Präsidentschaft. In welchen Punkten sollte sich die Bundesregierung dann besonders stark machen, um sie europaweit voranzubringen?
Kocher: Ich glaube, dass gerade der Steuerbereich wichtig ist. Der Finanzminister oder die Finanzministerin wird hier extrem gefordert sein. Es geht um Steuerharmonisierung, um die digitale Betriebsstätte, nach der Steuern eingehoben werden sollten, die Brexit-Verhandlungen, den europäischen Finanzrahmen usw. Darüber hinaus sind bei der Digitalisierung viele Fragen vor allem national zu lösen, etwa Bildungsfragen oder Arbeitsmarktpolitik. Eine gemeinsame Frage wird tatsächlich sein, wie die Eurozone ausgestaltet wird; da gibt es ja Überlegungen bis hin zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung mit sehr unterschiedlichen Meinungen dazu. Es ist durchaus sinnvoll, auf EU-Ebene mehr Geld zur Verfügung zu haben, um eine sinnvolle Budgetpolitik unterstützen oder gewisse Ungleichgewichte ausgleichen zu können.
Streissler-Führer: Aus meiner Sicht hat Österreich einen großen Export-Schlager, den man auch Europa erzählen kann – und das ist die Sozialpartnerschaft. Wir wissen seit vielen Jahrzehnten, wie man den Arbeitsmarkt ausgestaltet und den Wirtschaftsstandort weiterentwickelt. Ich würde mir von der österreichischen EU-Präsidentschaft Überlegungen wünschen, wie wir die Veränderungen durch die Digitalisierung gemeinsam gestalten können. Dass gute Arbeit in der Digitalisierung möglich ist, wenn es einen tragfähigen Dialog zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen sowohl auf der betrieblichen als auch auf der kollektivvertraglichen Ebene gibt. Insofern sollte Österreich die EU-Ratspräsidentschaft unter den Schwerpunkt „Sozialpartnerschaft 4.0“ stellen.
Moderation: Heike Hausensteiner